Schlagmann
ihm zu sagen, geh zum Nervenarzt.«
Ich dachte, ja, das hätte Ali wahrscheinlich viel früher machen müssen, während ich meinen Reporterblock aus der Tasche meines Jacketts holte.
»Hatten Sie in Ihrer Praxis schon mit ähnlich gelagerten Fällen zu tun?«
Wissmann nickte.
»Es gibt nur wenige Kollegen, die umfangreiche Erfahrungen damit haben, ich selbst habe jedoch schon mehrere Fälle behandelt. Magersucht bei Männern ist ein relativ seltenes Phänomen.«
»Eher eine Mädchenkrankheit, oder?«
»Es wird geschätzt, dass auf 30 weibliche Anorexien eine männliche kommt. Magersucht bei Mädchen hängt mit der Störung des eigenen Körperbildes zusammen. Bei Männern ist das anders. Bei ihnen steckt immer eine Persönlichkeitsstörung dahinter.«
»Eine Persönlichkeitsstörung?«
Wissmann lächelte zart.
»Entschuldigen Sie, ich darf einen Sportreporter natürlich nicht überfordern mit meinem Fachchinesisch.«
Ich beschloss, die Anspielung auf meine dürftige Bildung widerstandslos zu schlucken, um das Gespräch nicht in die falsche Bahn zu lenken.
»Eine Charakteropathie, deren Wurzeln in der frühen Kindheit liegen.«
»Jaja«, sagte ich rasch. »Eine schwere Kindheit – das ist eine beliebte Entschuldigung für Leute, die keine Verantwortung für sich übernehmen wollen.«
Wissmann schüttelte tadelnd den Kopf.
»Vergessen Sie nicht, dass wir es hier mit einem schwerkranken Mann zu tun haben.«
»Sie meinen also wirklich, die Eltern sind schuld?«
Wissmann schaute mich misstrauisch an.
»Sie werden doch wohl nicht irgendwelche Rückschlüsse auf Personen ziehen und das veröffentlichen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Versprechen Sie mir das?«
Ich nickte.
»Laut bitte«, sagte er.
Obwohl ich mir noch blöder vorkam als zuvor, wiederholte ich, dass ich keine Rückschlüsse auf Personen ziehen und diese veröffentlichen würde.
Dann fuhr er fort: »Frühkindliche Defizite könnten natürlich die Ursache sein. Mangelnde Wärme. Eine nicht funktionierende Eltern-Kind-Beziehung.«
»Die hatte ich auch nicht«, sagte ich lachend, verstummte aber schnell.
»Es könnte viele Ursachen geben. Oft handelt es sich tatsächlich um Kinder, die von ihren Eltern ausgebeutet, für etwas benutzt worden sind. Zum Beispiel, um ihre Ehe zu retten. Geradesehr sensible, emotional begabte Kinder bieten sich dafür an. Sie reagieren, indem sie sich selbst opfern. Die Kinder horchen in die Eltern hinein und spüren wie lebende Seismografen deren Bedürfnisse, die sie dann zu erfüllen versuchen. Sie wollen vermitteln, ihre Eltern wieder zusammenbringen, weil dies für sie eine Überlebensgrundlage darstellt.«
»Und das halten sie nicht aus.«
Wissmann nickte.
»Ein Effekt kann sein, dass sie irgendwann alle seelischen Regungen paralysieren.«
»Und so war das bei Arne?«
Wissmann räusperte sich.
»Arne war innerlich und äußerlich verstummt. Er kam aus einem Umfeld …«
Ich holte ein bisschen zu laut Luft, und Wissmann sah mich scharf an.
»In meinem Beruf kann man sich Mitgefühl nicht erlauben. Aber ich werde immer empfindlicher gegen Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit. Nichts geschieht ohne Ursache, und ich kann Ihnen versichern, auch in Arnes Fall gibt es sie.«
»Hat er Ihnen davon erzählt?«
Wissmann nickte. »Es gibt gewisse Techniken, Erfahrungen aufzuspüren, von denen ein Patient sich eigentlich abgeschnitten hat.«
»Und?«
Wieder so ein scharfer Blick von Wissmann.
»Ich frage mich: Wer wäre dieser Arne geworden, wenn er nicht erloschen wäre? Jeder seelische Schmerz, den Kinder erleiden, macht die Welt ein Stück schlechter.«
Ich ahnte, dass weiteres Nachbohren vorerst sinnlos war.
»Schön und gut«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Aberwie paralysiert ein Mensch seine seelischen Regungen? Das ist doch unmöglich.«
Auch Wissmann setzte sich bequemer hin, als begänne nun der Routineteil seines Vortrags.
»Der zentrale Begriff, wenn es um Magersucht geht, ist das Nichts.«
»Die Leere?«
»Nein. Eben nicht die Leere. Das Empfinden von Leere würde voraussetzen, dass man eine Vorstellung von Fülle hat. Da ist dann immer noch eine Empfindung, nämlich die Empfindung des Defizits. Wir sprechen aber von dem Nichts, das wirklich nichts ist.«
Ich schrieb mir diesen Satz auf, in der Hoffnung, ihn dadurch zu verstehen. Das Nichts, das wirklich nichts ist. Mein Verstand arbeitete nur träge.
»Wieso nichts?«, fragte ich.
»Das Bedürfnis, sich in nichts
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