Schlagmann
aufzulösen, ist dadurch bedingt, dass die Wirklichkeit unerträglich ist. Erst das Nichts hebt jedes Leiden auf.«
Das Bild schien mich zu verfolgen: Der große, schwere, muskelbepackte Hansen auf dem olympischen Siegerpodest. Nichts. Und gleichzeitig sein Verstand, der offensichtlich registrierte, dass da nichts war. Ich dachte wieder daran, wie er gegen die Wand gerannt war. Vielleicht hatte er es getan, um zu fühlen, dass er da war.
»Kann es sein, dass er trotzdem manchmal versucht hat, sich selbst zu fühlen?«
Er zögerte.
»Möglich … Das Leiden selber merkt der Kranke aber nicht. Er weiß nicht, worunter er leidet.«
»Aber er merkt, dass etwas nicht stimmt mit ihm?«
»Ja. Aber wieso soll er etwas ändern? Üblicherweise hängtein Patient an seiner Krankheit. Ja, er verteidigt sie sogar gegen sein Umfeld.«
Ich schrieb auch diesen Satz auf. Er verteidigt seine Krankheit gegen sein Umfeld. Auch gegen die Menschen, die sich für ihn interessieren. Und auch gegen die Menschen, die ihn lieben. Wenn du das Quälende nicht abschaffen kannst, musst du dich selbst abschaffen.
»Eigentlich eine sinnvolle Sache«, sagte ich.
Wissmann richtete schon wieder seinen Diagnoseblick auf mich.
»Meinen Sie? Das Ziel des Patienten ist es, völlig in diesem Nichts zu versinken. Und das ist der Tod.«
Ich schrieb auf: Tod.
Ich holte meine Zigaretten aus der Jacke und steckte mir mit dem eigenen Feuerzeug eine an. Als ich die Zigarette zum Mund führte, fürchtete ich kurz, meine Hand könnte zittern und der Arzt mich für einen Trinker halten. Obwohl das nicht der Fall war, fühlte ich mich ertappt.
»Für mich stellt sich die Frage, wie ein solches Nichts, wie Sie ihn nennen, so einzigartige sportliche Leistungen hervorbringen kann. Die müssen von innen kommen. Das weiß ich aus Erfahrung.«
Wissmann schüttelte den Kopf.
»Er war eine hochleistungsorientierte Maschine. Jemand hat ihm gesagt, was er tun muss, und diese Chance hat er ergriffen.«
»Wollen Sie damit sagen, jemand hat Hansen aufgezogen wie ein Blechspielzeug und in das Ruderboot gesetzt, und er hat sein Programm abgespult, ohne sich dafür entschieden zu haben?«
»Im Grunde ja. Natürlich waren die Abläufe komplizierter. So viel ich weiß, war Hansen in seinen besten Zeiten ein genialer Schlagmann, der allerdings nur selten von seinem Schema abwich.Erinnert Sie das nicht an eine Maschine? Und der ganze Achter? Ein mechanisches Wunderwerk. Ein geniales Tätigkeitsfeld für einen, der sich in nichts auflösen will.«
Ein Räderwerk, dachte ich. Eine Kampfmaschine. Ja. Ich musste zugeben: In diesem Punkt hatte er recht. Plötzlich fiel mir meine heimliche Pornofilmsammlung in den Tiefen meiner Wohnzimmerschrankwand ein. Ein Leben lang hatte ich die Männer in den Filmen heimlich beneidet, die Erektionsweltmeister, die immer konnten und offensichtlich nie versagten. Sie waren Maschinen. Sex-Maschinen. Ich musste grinsen, korrigierte meinen Gesichtsausdruck aber sofort wieder, als ich Wissmanns ernste Miene sah.
»Er hat also nichts gefühlt, als er die Goldmedaille gewonnen hat?«
»Nach meiner Erfahrung kann er nichts gefühlt haben. Der Erfolg löst nichts aus. Keine Freude und keinen Stolz, weil er es nicht aus eigenem Entschluss gemacht hat. Er hat sich selbst zum Werkzeug gemacht.«
Ich drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus.
»Wie erklären Sie dann, dass er damals noch genug gegessen hat?«
»Ich denke, man kann sogar den Erfolg als Magersucht sehen. Wer im Erfolg nichts fühlt, der kann selbst dabei zusehen, wie seine Seele weniger wird. Von Erfolg zu Erfolg, von Abstumpfung zu Abstumpfung. Als das wegfiel, begann bei dem Ruderer die richtige Magersucht.«
Der Arzt nahm seine Armbanduhr ab, eine goldene Uhr mit braunem Lederband, schaute kurz auf das Zifferblatt und legte sie mit einem zarten Geräusch auf die Schreibtischunterlage. Doch er redete ruhig weiter. »Sind Sie denn sicher, dass er während seiner Laufbahn normal gegessen hat?«
»Nein.« Plötzlich ergriff mich eine große Erleichterung. Eswar eine Krankheit mit ganz klaren Symptomen. Keiner von uns war schuld.
»Hansen hat essen können, weil er wusste, es wird beim Training verbraucht«, sagte der Psychiater ruhig. »So konnte er das Essen funktionalisieren. Das hat nichts mit Schmecken oder gar mit Genuss zu tun. Es hat nur mit dem Nichts zu tun. Das ist der Schlüssel.«
Das Nichts. Ich war erstaunt, dass Arne angeblich so wenig gelitten
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