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Schlangenaugen

Schlangenaugen

Titel: Schlangenaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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merklich. Innerlich blieb er misstrauisch, schließlich hatte man ihm über all die Jahre gezeigt, dass „Weiße“ mit Vorsicht zu genießen waren. Er war sich nicht ganz darüber im Klaren, was der gutaussehende Fremde vorhatte. Aber eine gewisse Sympathie schien auf beiden Seiten  vorzuherrschen. Aber wie würde dieser Andy reagieren, wenn er erfuhr, dass Joe nicht zu „Seinesgleichen“ gehörte?
    „Freunde kann man immer brauchen“, antwortete der junge Mann daher diplomatisch. „Ich muss jetzt zu den anderen Gästen.“
    Am liebsten hätte André nach Joes Hand gegriffen und ihn da behalten, doch er musste ihn gehen lassen. Noch vier Tage bis Memphis.
    Eine zweite Gelegenheit für eine Begegnung bot sich am nächsten Morgen. Joe und die anderen farbigen Stewards mussten – wenn sie nicht die Gäste bedienten – auch niedere Arbeiten verrichten. Deckschrubben gehörte dazu. Joseph verrichtete auch diesen Dienst ohne zu murren. Er war froh, an Bord bleiben zu dürfen und mit jeder Umdrehung der mächtigen Schaufelräder dem rettenden Norden  ein Stück näher zu kommen.
    Er befand sich allein auf dem Achterdeck und blickte gerade von seiner Arbeit hoch. Da war plötzlich wieder dieser Fremde an der Reling, doch statt auf den trägen Fluss hinauszublicken, wie es die meisten Passagiere taten, wenn sie nicht gerade unter Deck spielten oder tranken, schien er Joseph bei dessen Arbeit zu beobachten. Ein mulmiges Gefühl beschlich den hübschen Jungen. Vielleicht war dieser Andy einer der berüchtigten Kopfgeldjäger und man war doch hinter ihm her? McMillan war in der Vergangenheit nicht gerade zimperlich gewesen, wenn es um entlaufene Sklaven ging. Aber würde er seinen eigenen Sohn durch das halbe Land hetzen lassen? Zum ersten Mal begriff Joseph, welch ein Glück er hatte, nicht nur hellhäutig geboren, sondern auch vom Sklavenmal verschont worden zu sein. Im Stillen dankte er Gott dafür. 
    In den nächsten dreißig Minuten schlichen Joseph und Andy umeinander wie Raubtiere um eine Wasserstelle. Schließlich fasste Joe sich ein Herz und ging zu dem überschlanken Spieler hin.
    „Was willst du eigentlich von mir?“, fragte er ihn gerade heraus. Andy – überrascht von dieser Direktheit – schien erschrocken. Ja, was wollte er eigentlich von diesem hübschen Bengel?
    „Komm mit mir“, forderte er ihn dann auf. Seine Stimme klang heiser.
    „Wohin?“ Jetzt war Joseph verblüfft.
    Ja, wohin eigentlich? André wurde bewusst, dass er immer noch kein Ziel im Leben hatte, niemals eines gehabt hatte. Er kam sich vor wie ein ausgesetzter Hund.
    „Ich habe keine Ahnung“, gab er kleinlaut zu.
    Ein unterdrücktes Lachen war die Antwort. Ein sanftes, warmes Lachen. Unwillkürlich musste André darin einstimmen. Die Situation war wirklich zu komisch für sie beide.
    „Ich will nach Norden. Oder nach Kentucky. Gibt ´ne Menge Vollblutzüchter da. Vielleicht brauchen sie da noch einen tüchtigen Stalljungen“, gab Joseph seine Pläne preis und behielt die Reaktion seines Gegenüber im Auge.
    „Rennpferde? Warum nicht? Ich kenne mich mit Gäulen zwar nicht aus, aber vielleicht gibt es in Kentucky auch andere Spiele außer Pferdewetten“, lachte André und reichte Joseph die Hand. Dieser schlug ein. Sein Händedruck war warm und kräftig.
    „Okay, abgemacht. Wir reisen von Memphis aus zusammen.“
    André lächelte zufrieden und erwiderte den Händedruck. Die Berührung tat gut. Auch Joseph durchlief ein angenehmes, warmes Kribbeln bis hinunter zu den Fußspitzen. Das fühlte sich nicht wie Freundschaft an! Und überhaupt: Er wagte nicht, daran zu glauben, dass eine echte Freundschaft zwischen den beiden Rassen überhaupt möglich war. Rasch entzog er sich der  ungewohnten Nähe und wandte sich erneut seiner Putzarbeit zu. André schlenderte die Reling entlang.
    So früh am Morgen befanden sich nur wenige Passagiere an Deck. Ab und zu warf er einen Blick zum Achterdeck hinüber. Und wie zufällig trafen sich seine und Joes´ Augen immer wieder aufs Neue. Das war der Tag, an dem Joseph bemerkte, dass er wirklich „anders“ war, nicht nur wegen seiner Hautfarbe.
    * * *
    Das blecherne Tuten des großen Raddampfers war schon meilenweit zu hören, lange bevor er in Memphis eintraf. Stratton lief mit den Neugierigen zur Kaimauer hinunter. Dort warteten die Händler bereits auf ihre Ware, ebenso wie neue Passagiere und eine kleine Armeeeinheit der Konföderierten, die sich flussaufwärts bringen lassen wollte.

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