Schlangenaugen
Grenze nach Kentucky zu kommen, solange das noch neutral ist. Da sind wir in Sicherheit, bis wir weiter nach Norden kommen.“
„Wohin willst du eigentlich?“, fragte Joe nachdenklich. Sie waren seit heute beide Ausgestoßene und mussten sich von größeren Siedlungen fernhalten. Um sie herum tobte der Bürgerkrieg.
André zuckte hilflos mit den Schultern. „Und du?“, fragte er dann.
„Mein Zuhause war die Cloudy Moon Plantage. Zumindest dachte ich das, bis ich die Hintergründe von Stratton erfuhr. Jetzt würde ich am liebsten umkehren, die Sklaven dort befreien und mich an meinem Vater für die Vergewaltigung meiner Mutter rächen.“
„Das kann ich zwar verstehen, aber der Gedanke ist töricht. Du begibst dich unnötig in Gefahr.“
„Ich weiß, aber das ist es, was ich fühle. Zuhause werde ich nirgendwo sein.“
„Wieso nicht?“
„Ich bin ein Nigger, schon vergessen?“
„Sag so was nicht. Außerdem sieht dir das keiner an", sagte André peinlich berührt ob dieser Tatsache.
„Ich weiß es. Und du auch.“ In Josephs dunklen Augen schimmerten Tränen.
„Ich werde es niemandem sagen“, mit diesen Worten setzte der Spieler sich neben seinen verwirrten Freund und legte seinen rechten Arm um dessen Schultern. Joe lehnte seinen Kopf an André. Das geschah fast automatisch. Plötzlich war da jemand, der zuhörte, der ihn verstand, ein Geheimnis mit ihm teilte. Es war, als ob diese seltsame Verbindung zwischen ihnen sich durch den unbeabsichtigten Tod des Aufsehers plötzlich intensiviert hätte.
André verstärkte den Druck seines Armes, so dass Joseph sich an ihn schmiegen konnte. Welch eine bizarre Situation! Endlich kamen sie einander körperlich näher, doch hinter ihnen lag der tote Aufseher und sah mit starren Augen in den Sternenhimmel. Wenige Minuten später stand André auf und legte eine Satteldecke über das Gesicht des Toten. In der Ferne war das Geheul eines Kojoten zu hören.
Sie schliefen beide nah beieinander und dennoch schlecht in dieser Nacht. Zu viele Gedanken jagten in ihren Köpfen umher wie die Raubtiere, die sich in dieser Nacht ihre Beute suchten.
Sobald der Morgen dämmerte, begruben die beiden jungen Männer die Leiche und errichteten ein schlichtes Holzkreuz ohne Namen über einem Steinhügel. Soviel Respekt musste sein, schließlich hatten sie Stratton nicht absichtlich ermordet. Dennoch plagte beide ein schlechtes Gewissen und sie arbeiteten schweigend und mit bloßen Händen. Stand ihre aufkeimende Beziehung wirklich unter einem so schlechten Stern?
* * *
In Jellico, an der Staatengrenze zu Kentucky, wurde über ihr Schicksal anders entschieden. Genauer gesagt von Major George Ellington, der ein Bataillon der Blauröcke von Norden her in die Grenzstadt geführt hatte und auf seinem Weg neue Rekruten einsammelte. Wobei er nicht gerade zimperlich war. Wer einmal von ihm "ausgewählt" wurde, der konnte sich den Argumenten des Majors nicht so einfach entziehen. Einige traten aus Gründen der Ehre in die Armee ein, andere wegen der Besoldung - oder weil sie gerade nichts Besseres zu tun hatten - und wieder andere wegen der kleinen "Nebenerwerbe", die Soldaten in besetzten Gebieten gerne mitgehen ließen. Und dann gab es noch diejenigen, die von den Anführern der Brigaden einfach zwangsverpflichtet wurden, oft junge Männer ab 16 Jahren.
Major Ellington hatte für "Drückeberger" - wie er jeden bezeichnete, der in diesen Tagen keine Uniform trug - nichts übrig und überzeugte diese durch einen ganz besonderen Trick. Er spielte Poker mit ihnen, aber nicht um Geldbeträge, sondern um die Jahre, die man unter seiner Obhut verbringen durfte. Am Spieltisch verpfändete da so mancher nicht nur seine Seele, sondern sein Leben. Gewann Ellington, wurde dem Verlierer sofort eine graue Uniform verpasst. Verlor er - was selten geschah -, so durfte derjenige unbehelligt seines Weges ziehen. Wer sich trotzdem seinen Verpflichtungen entziehen wollte oder gar später desertierte, wurde erschossen. Der pockennarbige Major mit den scharfkantigen Gesichtszügen, in dessen Augen sich selten eine andere Emotion als Verachtung widerspiegelte, feilschte nie.
Er stand gerade auf der Veranda vor dem Sheriff Office und überblickte das bunte Treiben auf der einzigen Straße durch die Stadt, als er die beiden ankommenden Reiter erblickte. Zwei junge Männer auf erschöpften Pferden, die gerade den Mietstall ansteuerten. Er war sich sicher, dass ihr nächster Gang in den Saloon
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