Schlangenaugen
lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ seine Augen von einem zum anderen schweifen. Es blieb einige Zeit still und André begann, mit den Füßen zu scharren. Endlich erhob Jenkins seine sonore Stimme: "Joseph, wir müssen die Echtheit des Testaments noch beglaubigen lassen. Dazu brauche ich eine Schriftprobe von McMillan. Aber das dürfte kein Problem sein. Hat ja genug Geschäfte hier gemacht, der alte Ibrahim."
Joe nickte nur und wartete ab.
"Wer war eigentlich deine Mutter, Joseph?"
Das war die alles entscheidende Frage. Emily kam seiner Antwort zuvor. "Das ist leider nicht bekannt, Sheriff. Der Junge wuchs bei einer Amme auf."
Das war nicht einmal gelogen. Jenkins gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und wandte sich nun André zu. "Es gibt da ein kleines Problem. Wir haben McMillans Leiche im Haus gefunden. Er wurde mit einem gezielten Kopfschuss sozusagen im Schlaf hingerichtet. Hat wohl nicht viel gemerkt. Ein gewisser William Fox, ehemaliger General der Konföderierten behauptet, er hätte vorgestern Plünderer auf der Plantage erwischt. Die wären ihm jedoch entkommen. Er habe McMillan bereits tot vorgefunden."
"Das ist nicht wahr!", platzte es aus André heraus.
Betretenes Schweigen. Aus Joes Gesicht war jegliche Farbe gewichen. André beschloss, die Wahrheit zu sagen, zumindest teilweise. Er nickte also. "Ja, Sheriff, wir waren in dem Haus. Hatten lange nichts mehr gegessen und wollten ein paar Vorräte aus der Küche mitnehmen. McMillan war am Leben, allerdings stockbesoffen. Er hat Joe das Testament eigenhändig übergeben. Wir wollten gerade gehen, da kamen die Soldaten."
Der Sheriff nickte wie ein weiser alter Mann. Er schien sich sein eigenes Bild über das Geschehen zu machen. "Habe mir das Haus und die Plantage angesehen. So, wie es aussah, hat dort eine ganze Kompagnie gewütet. Die Frage ist nur, wer hat McMillan erschossen? Diese Frage müssen wir klären, wenn jetzt plötzlich ein unehelicher Sohn auftaucht, der den gesamten Besitz beansprucht."
Emily riss die Augen weit auf. Sie spürte, dass "ihre" beiden Jungs in Gefahr waren, und wie eine Löwenmutter begann sie, diese zu verteidigen.
"Sheriff, Sie werden doch nicht glauben, dass Joe oder André einen hilflosen Menschen einfach so erschießen?"
Jenkins schüttelte den Kopf. "Ich persönlich nicht. Vorgestern herrschte noch Krieg, da gab es eine Menge Leichen, nach denen keiner fragte. Heute herrscht Frieden, und damit geht es um Mord. Ich habe Doctor Lassiter gebeten, die Kugel aus McMillan zu entfernen und zu untersuchen. Dann wissen wir zumindest, mit welcher Waffe geschossen wurde. Wie ich sehe, trägst du keinen Colt mehr, Junge." Der letzte Satz war an André gerichtet.
"Hab´ in der Army genug schießen müssen", murmelte dieser.
"In welcher Army?", hakte Jenkins nach.
"In Jellico sind wir von Major Ellington eingezogen worden. Die Truppe wurde in einem Hinterhalt der Rebellen aufgerieben. Wir sind danach geflohen."
Auch das entsprach der Wahrheit. Jenkins nahm einen tiefen Atemzug. "Ich geb dir einen guten Rat: Erzähl niemanden, in welcher Einheit du warst und dass du eine blaue Uniform getragen hast, verstanden? Der Süden wird noch lange Zeit brauchen, um sich seine Wunden zu lecken. Da sollte man auf der richtigen Seite gestanden haben. Was mich betrifft, werde ich das vergessen."
Es klopfte an der Bürotür.
"Herein!", rief Jenkins.
George Lassiter, der neue Arzt von Baton Rouge, trat ein. Er war ein stiller, studierter Mann mittleren Alters mit einer silbernen Nickelbrille auf der Nase. Er reichte dem Sheriff eine Kugel. "Stammt aus einem Armeerevolver", meinte er nur.
Jenkins nickte. "Danke."
Der Arzt verließ das Büro wieder. Jenkins wog die Kugel in seiner Hand, betrachtete das verbogene kleine Stück Metall von allen Seiten. "Hm", machte er dabei. War das nun gut oder schlecht für André und Joe? Emily knete nervös ein Taschentuch in ihrer Hand. Wieder ein "Hm."
Endlich schaute Jenkins hoch. "Da dieser ehemalige General Fox keine Anzeige erstattet hat, sehe ich McMillan als eines der letzten Kriegsopfer an. Sollte er jedoch Anzeige gegen euch erstatten, werde ich ihn selbst und seine Leute wegen Vandalismus und Plünderei einbuchten. Ich glaube, das kann ich ihm klarmachen, wenn er in der Stadt bleiben will." Ein angedeutetes Lächeln huschte über das kantige Gesicht des Gesetzeshüters. Seine drei Besucher atmeten hörbar auf.
"Und nun nochmal zu dir, Joseph St. Cloud. Ich werde das mit
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