Schlangenaugen
feingliedrigen Finger waren nicht für harte Arbeit geschaffen. Sie durchpflügten den Kartenstapel wie ein kundiger Farmer und ernteten immer das beste Blatt. Die gepflegten Hände liebkosten die Würfel und entlockten ihnen die günstigsten Zahlen. Nur am gestrigen Abend hatte er Pech gehabt. Da wurde ihm ein Einser-Pasch beim Würfeln zum Verhängnis.
Ein Wurf, den man im Spielerjargon als „Schlangenaugen“ bezeichnete. Sie brachten Unglück. Und das nahm gerade seinen Lauf, indem ihn Sheriff Jenkins der Stadt verwies. Wenn Emily nicht immer wieder ein gutes Wort für ihn eingelegt hätte, wäre er schon längst aus der Stadt geflogen, wenn es nach Sheriff Jenkins gegangen wäre, doch dieser hatte bis heute immer ein Auge zugedrückt.
„André, du solltest heiraten und endlich was solides machen“, schlug dieser ohnmächtig vor und verdrehte die Augen. Dabei wog er die Würfel in seiner Hand und warf sie spielerisch hoch. Ihr Gewicht hatte ihn verraten! Andrés Mundwinkel zogen sich verächtlich nach oben. Den Satz kannte er bereits von seiner Mom. Ans Heiraten hatte er nie gedacht, tat es immer noch nicht. „Ein paar Asse mehr im Ärmel sind die eine Sache, aber getürkte Würfel…tss, tss, tss...“ Immer noch schüttelte Jenkins den Kopf. Es tat ihm schon Emilys wegen leid, den Jungen aus der Stadt zu schicken.
„Der nächste Dampfer legt morgen früh um acht ab. Ich werd dich solange einbuchten müssen, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst. Vorschrift ist Vorschrift.“ Mit diesen Worten erhob sich der kräftige Mann mit dem silbernen Stern auf der Brust hinter seinem Schreibtisch, und der junge Mann ließ sich widerstandslos in eine der Arrestzellen führen. „Kaffee und was zu essen bring ich dir nachher, Junge. Mach´s dir solange gemütlich.“
In der Zelle nebenan schnarchte lautstark ein Betrunkener, ebenfalls ein Überbleibsel der letzten Nacht. Jenkins deutete mit dem Kopf auf das zerzauste Büschel grauer Haare, das unter der groben, braunen Wolldecke hervor lugte.
„Tom Stratton, der ist jedes Mal mein Gast, wenn er eine Ladung Baumwolle in den Hafen gebracht hat. Mich wundert nur, dass er alleine war. Komisch, dass der alte Abe ihn nicht begleitet hat.“
Jenkins versuchte, sich mit diesen Selbstgesprächen von dem Gedanken abzulenken, einer vierzigjährigen, sehr wütenden Dame erklären zu müssen, dass ihr Ziehsohn in ein paar Stunden Baton Rouge verlassen musste. Aber das war unausweichlich, denn Emily musste dem cleveren Spieler ein paar Sachen für die Reise zusammenpacken. Mit schlurfenden Schritten ging Jenkins davon, um sich dieser Aufgabe zu stellen.
Die „Elizabeth Kane“ lag seit gestern Nachmittag vor Anker. Über den breiten, hölzernen Steg trugen gerade freie weiße Hafenarbeiter und schwarze Sklaven die Fracht auf das riesige Dampfschiff. Flach und klobig schaukelte es träge am Kai, während die graublauen Wellen des Mississippi an ihm vorbeirauschten. Zwei gigantische Schaufelräder an jeder Seite ruhten wie schlafende Riesen, bevor es vollbeladen wieder flussaufwärts gehen würde. Der Kapitän Jonathan Muller und sein erster Maat überwachten die Beladung.
Nach der Fracht würden die Passagiere an Bord gelassen. Für diese würde es eine Vergnügungsreise werden. Aber jetzt dachte noch niemand ans Vergnügen. Überall wurde hektisch gearbeitet. So hektisch, dass es niemandem auffiel, dass ein Sklave einen der rechteckig geschnürten Ballen mit Rohbaumwolle in den Frachtraum hineintrug, jedoch nicht wieder herauskam.
Mama Bo hatte gesagt, er sollte flussaufwärts laufen, den Mississippi entlang. Doch Joseph entwickelte einen waghalsigen Plan, als er von dem auslaufenden Schiff erfuhr. Während der alte Aufseher der Cloudy Moon Plantage seinen wöchentlichen Rausch in der Ausnüchterungszelle ausschlief, schlich er sich mitten in der Nacht davon. Eigentlich hätte er im Mietstall auf die Gespanne aufpassen sollen. Stratton hätte ihm zu gerne Ketten an den Füßen angelegt, doch der Master hatte das verboten. So fesselte er Joseph mit einfachen Hanfstricken und schloss den hellhäutigen Sklaven einfach im Stall ein. Als die Stadt schlief, konnte Joseph sich aus seiner misslichen Lage befreien, auf den Heuboden klettern und dann aus der Dachluke hinausklettern. Im Schatten der Häuserfronten hatte er sich zum Kai durchgeschlagen.
Selbst wenn Tom Stratton später Alarm schlug, so würde jeder denken, dass er als abtrünniger Sklave zu Fuß geflüchtet
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