Schlangenblut (German Edition)
bereithielt?
»Ich hab dir etwas mitgebracht«, sagte Bobby und deutete mit dem Kopf auf den Beutel, der seitlich an seinem Rollstuhl hing. Lucy griff hinein und holte zwei von Ashleys Zeichnungen heraus: die von Draco und die ihrer ätherischen Gestalt namens Angel. »Deine Zeichnungen. Du wirst natürlich jetzt, wo du siehst, wie ich wirklich aussehe, die von Draco ändern wollen. Aber es hat mir gutgetan, dass mich überhaupt jemand so sehen konnte – als echten Helden.«
Während er sprach, fiel Lucy auf, dass Ashley sie alle beobachtete, zwar mit reglosem Gesicht, aber aus ihren Augen sprachen Verzweiflung und Sehnsucht zugleich. Sie strich mit dem Arm über die Bettwäsche, mit ihrem linken Handgelenk, an dem sie die parallelen Schnitte hatte. Ihre Bewegungen waren ruckartig, als könnte sie nichts dagegen tun. Lucy nahm Ashleys Hand. Ashley hielt wieder still, aber ihr starrer Blick war nun auf Lucy gerichtet.
»Meine Mutter ist tot.« Ashleys Stimme erschreckte sie, denn sie schien zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen.
Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Lucy spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie hatte keine Ahnung, ob sie Melissas Tod bestätigen oder besser abstreiten sollte. Aber sie hatte Megan immer die Wahrheit gesagt, auch wenn diese schmerzlich gewesen war, und so wollte sie es nun auch mit Ashley halten. »Ja, sie ist tot. Es tut mir leid.«
Ashley vergoss wegen Melissas Tod keine Tränen. »Sie hat gesagt, ich wäre auch tot.« Ashleys Finger umklammerten die von Lucy und hielten sie fest. »Bitte, ich will nicht tot sein. Jetzt nicht mehr.«
Ein halb erstickter Schluchzer brach aus Bobby hervor. »Du bist nicht tot, Ashley. Du bist die schönste und tapferste Person, die ich je getroffen habe. Sag bitte nicht solche Sachen. Du bist nicht tot.«
Zum ersten Mal fiel Ashleys Blick auf Bobby. Sie blinzelte, dann noch einmal, und die Erstarrung in ihrem Gesicht löste sich, während ihr Tränen über die Wangen kullerten. Schluchzer erschütterten ihren Körper, aber sie wirkte nicht mehr hysterisch wie in der Nacht zuvor, sondern einfach nur unendlich traurig.
Lucy löste den Klettverschluss von Ashleys Fessel und legte Ashleys Hand auf die von Bobby. Beide Teenager weinten hemmungslos und teilten ihr Leid und ihren Schmerz.
Lucy trat zurück, verließ das Zimmer und gab dem Arzt die Zeichnungen. »Ich denke, die braucht sie jetzt nicht mehr.«
Er nickte. »Gut gemacht.«
»Das war nicht ich.« Sie wandte sich an Taylor und Walden. »Alles klar im Büro?« Da John Greally ihr offenbar irgendwie den Job gerettet hatte, dachte sie, sie könnte ja mal fragen.
»Wir haben eine Spur zu einem Kinderporno-Ring in Erie«, sprudelte es aus Taylor hervor.
Walden legte seinem jüngeren Kollegen die Hand auf die Schulter. »Nichts, was wir nicht alleine schaffen würden. Sie gehen jetzt wieder zu Ihrer Familie.«
»Danke. Ich glaube, das mache ich. Vielleicht melde ich mich sogar für morgen krank, um Brownies für die Fußballmannschaft meiner Tochter zu backen, ein paar Chrysanthemen zu setzen und, wenn’s denn unbedingt sein muss, einen kleinen Hund zu kaufen.«
Dann öffnete sie die Tür von Megans Zimmer und blickte einen kurzen, glückseligen Moment lang hinein. Nick und Megan lagen dicht beieinander auf dem Bett und sprachen ernsthaft über irgendetwas. Das Sonnenlicht fiel durchs Fenster und betonte den rötlichen Ton von Nicks Haaren und Megans Sommersprossen.
Plötzlich verstand sie, was Nick ihr klarzumachen versucht hatte: dass sie, indem sie die Welt hatte retten wollen, letztlich nur versucht hatte, das zu retten, was in diesem Zimmer auf sie wartete. Und so kam ihr der Gedanke, freiwillig auch nur eine einzige Sekunde mit ihrer Familie zu verpassen, auf einmal vollkommen abwegig vor.
»Keine Angst, Boss«, meinte Walden und hielt ihr die Tür auf. »Die Perversen sind auch noch da, wenn Sie wiederkommen.«
»Ich weiß.« Sie ging ins Zimmer. »Aber die können warten. Die Familie geht vor.«
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