Schlangenblut (German Edition)
abgewartet und ihren Drang, wegzulaufen, unterdrückt.
Sie rollte langsam den Ärmel hoch und legte die anderen Trophäen frei, die ihre Selbstbeherrschung ihr eingebracht hatte. Jede Narbe ein Triumph. Jedes Wundmal eine weitere Gelegenheit, bei der sie nicht schreiend in die Nacht gerannt oder vor einen Bus gelaufen oder von einer Brücke gesprungen war.
Jede Narbe erinnerte sie daran, dass sie gewinnen konnte, dass sie etwas wert war, dass sie lebte.
Sie hob das Handgelenk und leckte langsam und gründlich das noch warme, salzige Blut ab.
Mitunter kam sie sich vor, als schwebte sie auf der Suche nach einem anderen Leben außerhalb ihres Körpers. Wenn sie sich dann verletzte, half ihr das, sich wieder zu erden, auch wenn sie letztlich nur zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrte. In denselben alten Körper, in dasselbe alte Leben.
In dieselbe Zukunft im Nirgendwo.
Dies war ihr letztes Mal. Versprochen. Sobald Bobby kam, um sie zu retten, würde sie es nie wieder tun. Sobald Bobby kam, würde alles gut.
Er hatte es versprochen.
»Entschuldigen Sie bitte.« Der schmierige Tresentyp kam ihr viel zu nahe, als er sich über sie beugte, um nach dem Serviettenspender zu greifen.
Ashley versuchte vergeblich zurückzuweichen, während sein Arm ihren Nacken berührte und ihr übers Haar strich. Perverser.
»Hey, rücken Sie mir gefälligst nicht so auf die Pelle!« Etwas Spitzes stach ihr in den Nacken. »Was zum –«
Für einen unmöglich langen Augenblick war die Enttäuschung größer als ihre Angst. Jetzt werde ich Bobby nie zu sehen bekommen, dachte sie, bevor die Verästelungen dieses flüchtigen Gedankens sie vor Schreck erstarren ließen.
»Hab keine Angst«, sagte er, setzte sich neben sie und umklammerte sie so fest, dass kein Entkommen möglich war. Nicht während ihr ganzer Körper sich in geschmolzenen Wackelpudding verwandelte, weich und matschig, und ihr wegzuschwimmen begann.
Als seine Worte endlich zu ihr durchgedrungen waren, versuchte sie, etwas zu sagen, doch aus ihrem Mund kam lediglich ein Speichelfaden. Sie sackte ihm entgegen. Im nächsten Moment hing ihr Kopf schlaff zur Seite, während sie das Blut auf ihrer Zunge schmeckte. Bobby, wo bleibt nur Bobby?
»Keine Angst, Ashley«, sagte er, während sich vor ihren Augen ein buntes Kaleidoskop entfaltete. »Ich bin gekommen, um dich zu retten.«
KAPITEL 2
Samstag, 7.34 Uhr
Lucy Guardino hasste diesen Teil. Den Teil, bevor es endlich losging. Den Teil mit der Warterei.
Um die Zeit totzuschlagen, durchwühlte sie auf dem Beifahrersitz des Chevrolet Blazer ihre Tasche aus Jeansstoff. Fletcher hatte gute Arbeit geleistet. Die Haarspange eines kleinen Mädchens, ein Haargummi, ein zerknitterter Kassenzettel von Giant Eagle und zwei Schlüsselanhänger: einer mit einem Satz Haustürschlüssel, der andere mit einem einzigen Dodge-Van-Schlüssel. Um den schloss sie die Hand, bis ihr die scharfen Bartkanten ins Fleisch schnitten. Der Schmerz half ihr, sich zu konzentrieren, und vertrieb ihre wortlose Angst.
Das alles gehörte zur Warterei. Wenn sie endlich etwas tun konnte, würde es ihr bessergehen. So war es immer.
Auf dem Parkplatz der Bank ging es noch ruhig zu. Trotz der frühen Stunde flimmerte bereits die Hitze über dem Asphalt. Die Luft roch nach Dünger, Heu und verbranntem Öl. Zum Duett von Fröschen und Zikaden auf dem Feld hinter dem Parkplatz gesellte sich hin und wieder das Quietschen von Druckluftbremsen von der dahinterliegenden Straße. September in Pennsylvania.
Während sie versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen, stellte sie sich die nur vier Jahre alte Katie vor. Stellte sich vor, was die Männer mit ihr vorhatten.
Nein, es war zwecklos – alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah, war ihre eigene Tochter, und alles, was sie fühlte, war die Wut darüber, dass solche Tiere frei herumlaufen durften.
Sie warf den Kopf in den Nacken und holte ein weiteres Mal tief Luft. Das Bild ihrer Tochter schob sie beiseite und dachte stattdessen an das, was diese Männer wollten: Macht, Ergebenheit, Verehrung … Kontrolle.
Sie kannte diese Männer, ihre Gedanken und Sehnsüchte. Die Gelüste, die sie um drei Uhr morgens aufwachen ließen, verschwitzt und krank vor Begierde. Das, was sie vor Augen hatten, wenn sie abspritzten. Die süße Vorfreude, die sich in ihren Adern ausbreitete, bis sie dem Angebot so wenig widerstehen konnten wie ein Junkie einem kostenlosen Schuss …
O ja, Lucy kannte diese Männer.
Ruhe
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