Schlangenblut (German Edition)
die Glock ins Gesicht, als hätte seine Drohung, das ganze Krankenhaus in die Luft zu jagen, nicht schon ausgereicht, dass sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit widmete. Lucy musste sich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen.
»Als ich auf sie losgegangen bin, hat sie sich den Kopf angeschlagen«, improvisierte sie. Heftige Schmerzen zuckten durch ihre Schulter und ihren Kiefer und schienen schließlich ihren ganzen Körper durchzuschütteln. Sie fürchtete jeden Augenblick, dass ihr die Beine nachgaben, und war so erschöpft, dass sie kaum mehr den Willen aufbrachte, dagegen anzukämpfen. »Die Ärzte meinten, sie ist so geschwächt gewesen – sie war völlig dehydriert und litt unter starkem Elektrolytmangel –, dass sie deswegen eine Hirnblutung hatte. Die ist aber so langsam verlaufen, dass es erst Stunden später jemandem auffiel, nachdem sie ihr genug Flüssigkeit eingeflößt hatten, um ihren Blutdruck zu normalisieren.«
Tränen strömten ihm über die Wangen, während sie eine Geschichte erfand, in die sie so ziemlich alles hineinpackte, was sie je im Fernsehen oder bei Autopsien aufgeschnappt hatte. »Tut mir leid. Wir haben versucht, sie zu retten, aber –«
»Dann habt ihr euch nicht genug Mühe gegeben.« Seine Stimme war leise und drohend, und Lucy fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein.
Der Aufzug hielt, die Türen gingen auf. Er stieß sie heraus, die Waffe an ihrem Rückgrat.
»Niemand hat sie geliebt außer mir«, lamentierte er weiter, während sie den Schildern zur Leichenhalle folgten und ihre Schritte in den schwach beleuchteten, leeren Korridoren widerhallten. »Sie hätten uns besser in Ruhe gelassen. Ich hätte sie glücklich machen können. Ich hätte mich um sie gekümmert.«
Sie bogen um eine Ecke und blieben vor einer Holztür stehen, auf der ein Schild verkündete: Pathologie, Betreten für Unbefugte verboten.
Fletcher stieß sie an, und sie drückte den Türgriff. Verschlossen. Wie nicht anders zu erwarten. Sollte ja nicht jeder reinmarschieren und den Toten einen Besuch abstatten.
Ein wütendes Knurren drang aus Fletchers Kehle, als er die Glock hob und ihren Lauf neben Lucys Gesicht hielt. Er brauchte nur das Handgelenk zu drehen, um Lucy ein Hohlspitzgeschoss Kaliber vierzig ins Gehirn zu jagen.
Hin und her gerissen zwischen dem Drang, die Augen zu schließen, und dem Willen, jede Sekunde mitzubekommen, schaute sie aus den Augenwinkeln auf seinen Finger am Abzug. Sie machte sich aufs Schlimmste gefasst und dachte an Nick und Megan, als er abdrückte.
Der Knall war ohrenbetäubend.
KAPITEL 42
Montag, 2.17 Uhr
Burroughs hielt sich den Bauch und hätte am liebsten gekotzt, doch das wäre zu schmerzhaft gewesen und hätte zu viel Zeit gekostet. Also torkelte er wieder in den Flur hinaus, wo er mit einem Mann zusammenstieß.
»Wo ist meine Frau? Wo ist Megan?«, fragte der Mann Cindy, die gerade aus Ashleys Zimmer hinter Burroughs kam. »Was ist passiert?«
»Fletcher«, sagte Burroughs nur, als er erkannte, dass er mit Guardinos Ehemann sprach. Der Mann auf dem Foto im Schlauchboot. Callahan hieß er. Burroughs schleppte sich langsam durch den Flur und wünschte, er könnte rennen – und vor allem richtig atmen.
»Fletcher hat sie? Wo?« Der Mann wurde keineswegs hysterisch, sondern beschränkte sich aufs Wesentliche. Das gefiel Burroughs, zumal er kaum genug Luft bekam, um sich aufrecht zu halten, geschweige denn, um lange Erklärungen abzugeben.
»In der Leichenhalle«, antwortete Cindy an seiner Stelle.
Callahan rannte zum Aufzug und drückte den Knopf. Die Tür ging gerade auf, als Burroughs ankam, doch der Aufzug war dicht gefüllt mit Patienten im Rollstuhl und ihren Krankenschwestern.
»Das hat keinen Sinn«, sagte Cindy. »Sie evakuieren das Gebäude wegen der Bombe.«
»Bombe? Was für eine Bombe?«, fragte Callahan. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern rannte stattdessen gleich zur Treppe am anderen Ende des Flurs.
Er hatte die erste Treppenflucht schon halb hinter sich, als Burroughs ihm durch die Tür folgte. Burroughs hätte ihn aufgefordert stehen zu bleiben, denn schließlich war er Zivilist und unbewaffnet noch dazu, aber er brauchte jedes bisschen Kraft dazu, sich auf den Beinen zu halten, während er unter heftigen Schmerzen die Treppe hinunterrannte.
***
In Lucys Ohr baute sich Druck auf, der sie taub machte und eine Schockwelle des Schmerzes durch ihren Körper jagte. Dann ließ der Druck wieder nach, eine Flüssigkeit rann
Weitere Kostenlose Bücher