Schlangenhaus - Thriller
Tränen ausbrechen.
Er trat vor, legte mir die Hände auf die Schultern und zog mich an sich. Und ich ließ es beinahe zu. Ich erlaubte ihm beinahe, mich in seine Arme zu ziehen und … was dann? Was genau hatte er im Sinn? Ich erfuhr es nie, denn ich kam gerade noch rechtzeitig zur Vernunft und wich zurück. Er ließ mich los.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. Ich nickte.
»Verdammter Dreckshaufen«, knurrte er. »Nathan Keech ist die letzten zwei Jahre im Jugendknast ständig ein und aus gegangen, und sein Bruder scheint es darauf anzulegen, es genauso zu machen. Kimberley Aplin ist von zwei Schulen geflogen, weil sie andere drangsaliert hat, und wegen Drogen. Kenny Brown und Jason Short sind beide wegen Ladendiebstahls
verknackt worden. Ich bin mir sicher, dass die hinter all dem Ärger stecken, den wir in letzter Zeit gehabt haben, ich kann’s nur nicht beweisen. Ein Dutzend Mal hab ich ihnen schon gesagt, sie sollen sich nicht hier rumtreiben.«
»Nur ein paar Kids, die Ausschau nach Gespenstern halten«, murmelte ich vor mich hin und rechnete nicht damit, dass er mich hörte. Dabei überlegte ich, ob er mir wohl anbieten würde, mich nach Hause zu bringen. Ich konnte ihn unmöglich darum bitten, aber ich wünschte es mir inständig. Wann hatte ich mich in ein solches Weichei verwandelt?
»Tun Sie das auch gerade?«, wollte er wissen.
Ich blickte auf.
»Ich habe mich heute mit Sally zum Mittagessen getroffen«, sagte er. »Sie sagt, Ihr Einbrecher hätte Ähnlichkeit mit Walter gehabt. Finden Sie nicht, dass Sie das gestern Abend hätten erwähnen sollen?«
Sally war mit Matt Mittagessen gewesen. Warum fühlte ich mich dabei unbehaglich? Und was hatte sie ihm sonst noch anvertraut? Was hatte er ihr erzählt?
»Sie glauben mir nicht.« Ich hatte die Worte als Frage gemeint, doch sie kamen heraus wie ein Vorwurf.
»Ich zweifele Ihre Aussage nicht an«, entgegnete er. »Aber Walter war ein durch und durch anständiger Kerl. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er seinen eigenen Tod vortäuscht, sich vor aller Welt versteckt und dann nachts in die Häuser anderer Leute einsteigt.«
»Nein, ich auch nicht«, gab ich zu.
Matt hatte sich umgedreht und schaute durch das Tor zu dem Haus hinüber. »Wir müssen wirklich herausfinden, was es mit diesem Haus auf sich hat«, bemerkte er. »Ich werde morgen Vormittag mal eine Mail an sämtliche Anwaltskanzleien schicken und versuchen, herauszufinden, wer als Nachlassverwalter fungiert. Aber wenn Walter und Edeline kein Testament gemacht haben und es keine Angehörigen mehr gibt, dann kann sich das Ganze jahrelang hinziehen.«
»Ich sollte mich lieber auf den Rückweg machen.« Ich machte einen Schritt hügelaufwärts, hoffte, er würde mir folgen und wusste, dass er es wahrscheinlich nicht tun würde. Dann blieb ich stehen und drehte mich um. Matt hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er stand einfach nur da und sah mich an.
»Hatte Walter Brüder?«, fragte ich.
Er lächelte. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wohl darauf kommen. Er hatte wirklich Brüder. Drei Stück. Walter war der Älteste.«
»Harry. Ich habe sein Grab auf dem Friedhof gesehen.«
Matt nickte. »Und Archie. Der ist vor Jahren weggegangen. Ist Prediger geworden, irgendwo in den Staaten.«
»Und der dritte?«
»Das müsste Saul gewesen sein. Das schwarze Schaf der Familie, nach allem, was man so hört.«
»Was ist aus Saul geworden?«, wollte ich wissen und war mit einem Mal überhaupt nicht mehr müde.
»Er ist weg. Den Geschichten nach wurde er davongejagt. Ich habe nie herausfinden können, wieso.«
»Er könnte doch zurückgekommen sein. Er könnte gehört haben, dass Walter und Edeline tot sind und zurückgekommen sein, um in dem Haus zu wohnen. Juristisch hätte er sogar ein Anrecht darauf.« Mittlerweile ganz aufgeregt, berichtete ich Matt von dem Gesicht, das ich vor einigen Tagen am Fenster gesehen hatte, von der frappierenden Ähnlichkeit meines Einbrechers von gestern Nacht mit Walter. Als ich geendet hatte, betrachtete Matt mich noch ein paar Sekunden lang, dann wandte er sich dem Haus zu.
»Dieses Haus steht direkt am Rand einer kleinen Steilwand aus Kalkstein, haben Sie das gewusst?«, sagte er und spähte durch die Gitterstäbe des Tors. »Direkt hinter dem Haus geht’s gute fünfzehn Meter steil runter.«
»Das wusste ich nicht.« Ich hatte das Haus der Witchers noch nie von der Rückseite aus gesehen. Der Pfad, auf dem
ich vom Fluss aus
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