Schlangenjagd
den Menschen aus Lehm geschaffen hatten.
Fast eine Stunde lang saß sie reglos da, gefesselt von dem, was sie sah, und verblüfft darüber, dass die Ergebnisse in einem derart frühen Stadium ihrer Arbeit bereits so positiv waren. Gegen alle wissenschaftlichen Prinzipien, aber auf ihr Bauchgefühl vertrauend, nahm Susan Donleavy den Objektträger aus dem Mikroskop und legte ihn auf den Labortisch, der neben ihr stand. Sie ging durch den Raum zu einem großen Industriekühlschrank, der vor einer der Laborwände vor sich hin summte, und entnahm ihm einen von mehreren Krügen voll Wasser, das bei einer Temperatur von genau zwanzig Grad Celsius gehalten wurde.
Das Wasser lagerte dort seit weniger als einem Tag, nachdem es zum Labor geflogen worden war, sobald man es entnommen hatte. Die Notwendigkeit, ständig frische Wasserproben zur Verfügung zu haben, war eine der kostenmäßig aufwändigsten Grundlagen ihrer Experimente – fast genauso teuer wie die detaillierte Gensequenzierung ihrer Forschungsobjekte.
Sie öffnete den Behälter und roch das salzige Aroma des Meerwassers. Sie tauchte eine Pipette hinein und saugte eine geringe Menge an, die sie dann auf den Objektträger träufelte. Sobald sie diesen wieder unter ihrem Mikroskop zentriert hatte, blickte sie erneut in die Welt des unendlich Kleinen. In der Probe wimmelte es von Leben. In nur wenigen Millilitern Wasser befanden sich Hunderte Exemplare von Zooplankton und Kieselalgen, jenen einzelligen Lebewesen, die das erste Glied der Nahrungskette in den Weltmeeren darstellen.
Die mikroskopisch kleinen Tiere und Pflanzen ähnelten denen, die sie vorher studiert hatte, nur waren diese nicht genetisch verändert worden.
Erfreut, dass die Wasserprobe durch den Transport nicht verdorben worden war, schüttete sie ein wenig davon in ein Becherglas. Indem sie es über den Kopf hielt, konnte sie im hellen Schein der Leuchtstoffröhren einige der größeren Kieselalgen erkennen. Susan konzentrierte sich dermaßen auf ihre Arbeit, dass sie nicht hörte, wie die Labortür geöffnet wurde, und da es schon so spät war, erwartete sie auch nicht, dass jemand sie stören würde.
»Was haben Sie denn da?« Die Stimme erschreckte sie so, dass sie beinahe das Becherglas fallen ließ.
»Oh, Dr. Merrick. Ich wusste gar nicht, dass Sie hier sind.«
»Ich sagte Ihnen doch, so wie ich es jedem in der Firma erkläre: Nennen Sie mich Geoff.«
Susan runzelte leicht die Stirn. Geoffrey Merrick war eigentlich kein übler Bursche, aber sie mochte seine leutselige Art überhaupt nicht. Er bestand darauf, dass sein Milliardenvermögen keinen Einfluss auf die Art und Weise haben sollte, wie die Menschen ihm begegneten, vor allem die Angestellten von Merrick/Singer, die immer noch an ihren Dissertationen zur Erlangung der Doktorwürde arbeiteten. Er war einundfünfzig Jahre alt, hielt sich jedoch in Form, indem er das ganze Jahr über dem Skilaufen frönte und auf die Schneehänge von Südamerika auswich, wenn in den Schweizer Alpen der Sommer anbrach. Er war auch ein wenig eitel, was seine äußere Erscheinung betraf, und seine Haut wirkte nach einem Gesichtslifting einfach zu straff. Obwohl selbst Doktor der Chemie, hatte sich Merrick längst aus der Laborarbeit zurückgezogen und verbrachte seine Zeit stattdessen damit, das Forschungsunternehmen, das seinen eigenen und den Namen seines ehemaligen Partners trug, zu leiten und zu beaufsichtigen.
»Gehört das zu diesem Flockungsprojekt, das Ihr Supervisor mir vor ein paar Monaten vorgestellt hat?«, fragte Merrick, nahm Susan das Becherglas aus der Hand und studierte seinen Inhalt.
Unfähig, ihn anzulügen, damit er möglichst schnell das Labor wieder verließ, sagte Susan: »Das stimmt, Doktor, ich meine – Geoff.«
»Es schien mir eine interessante Idee zu sein, als es vorgestellt wurde, obwohl ich nicht die geringste Vorstellung habe, wozu man es verwenden könnte«, sagte Merrick und gab das Becherglas zurück. »Aber ich denke, das liegt genau auf der Linie dessen, was wir hier tun. Wir frönen unseren ganz persönlichen Launen und Ideen und warten mal ab, wohin sie uns führen. Wie kommt das Projekt denn voran?«
»Ganz gut, glaube ich.« Susan war nervös, denn ganz gleich, wie nett er sich gab, Merrick schüchterte sie ein. Wenn sie sich selbst gegenüber jedoch ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass die meisten Menschen – von ihrem Boss über die alte Dame, von der sie ihre Wohnung gemietet hatte, bis hin zu dem
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