Schlangenkopf
York landen kann, das hat er immer gesagt, da muss man in London klarkommen, ich meine mit den Leuten dort und den Geschäften, die sie machen.«
»Und der Bilch, der ist in London klargekommen?«
André verzieht das Gesicht. »Nicht so wirklich, glaub ich. Die Elke hat gesagt, der Bilch kann immer so toll vom Geld reden, aber wenn man mal einen Hunderter braucht, dann darf man nicht zu ihm kommen. Deswegen hat die Elke ihn auch rausgeschmissen, das war, bevor sie krank geworden ist.« Er hebt den Kopf und richtet den Blick auf Barbara. »Das ist das einzig Gute an der Krankheit, hat sie gesagt, dass sie vorher den Bilch rausgeschmissen hat, weil, den hätte sie nicht auch noch ertragen können. Und dass er jetzt in der Wohnung war, das darf ich ihr gar nicht sagen, wenn sie zurückkommt.«
»Weißt du schon, wann sie zurückkommt?«
»Nein. Weiß ich nicht. Aber sie hat mir ja geschrieben.« André greift hinter sich, in die Brusttasche des Anoraks, den er über die Stuhllehne gehängt hat, zieht den Reißverschluss auf und holt einen zusammengefalteten fleckigen und zerknitterten Umschlag heraus. »Lesen Sie es ruhig.«
Barbara nimmt den Umschlag entgegen, sehr behutsam tut sie das, auf dem Umschlag steht nur: »Für André«, aber dann wendet sie sich etwas ab, denn Lucy erscheint mit dem Großen Salatteller, und so wartet sie ab, bis auch die Pasta für André und Berndorf gebracht worden ist, ehe sie den Brief herausholt, auch der Briefbogen weist Flecken auf und ist zerknittert, die Schrift ist die einer Frau, eine klar ausgeprägte, schnörkellose, geübte Handschrift. Barbara beginnt zu lesen:
Lieber André! Stell Dir vor – ich habe einen Platz in einem Erholungsheim gefunden und muss auch gleich hinfahren, sonst ist der Platz weg. Ich weiß noch nicht, wie lange ich dort bleiben werde, aber ganz bestimmt wird alles wieder gut werden. Du bist ja ein großer Junge, und ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann. Sei bitte nicht traurig, wenn in der nächsten Zeit keine Post von mir kommt – weißt Du, sonst müsste ich unterm Schreiben vielleicht weinen, weil ich doch noch nicht gleich zurückkann, und das kannst Du doch nicht ab, wenn Du so einen verheulten und fleckigen Brief bekommst. Tausend Küsse Elke
PS: Bitte mindestens einmal in der Woche – spätestens am Samstag – duschen und Haare waschen!
PS II: Wenn Leute kommen und sagen, Du sollst in ein Heim, dann lauf weg. Dann renn und lauf und versteck Dich und tu alles, was Dir einfällt. Aber lass Dich nicht in ein Heim stecken.
Barbara hält den Brief noch immer in der Hand, hat den Blick aber auf André gerichtet. Berndorf und auch der Junge haben zu essen begonnen, der Junge muss wirklich Hunger gehabt haben.
»André, sag mal – wann hast du diesen Brief denn bekommen?«
»Das war im Oktober«, gibt André kauend Antwort. »Als ich aus der Schule heimkam, lag er auf dem Küchentisch.«
N ein«, sagt die Stimme, die zu Ermittlungsrichter Rüdiger Quadenheuve gehört, »ich kann Ihnen dazu leider überhaupt keine Auskunft geben. Ich muss Sie bitten, sich an das Lagezentrum im Polizeipräsidium Rostock zu wenden.« Durch das Telefon klingt seine Stimme merkwürdig dünn und piepsig, aber es ist ihr genug Entschlossenheit anzuhören, sich ja nichts an Informationen abringen zu lassen.
»Das Lagezentrum hat mich an Sie verwiesen«, antwortet Adrian Dingeldey. »Außerdem wäre es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, mich unverzüglich zu verständigen, denn von dieser Olga Modrack geht eine unmittelbare Bedrohung für meine Mandanten aus!«
»Ich verstehe Ihre Erregung«, kommt es zurück, »aber Sie sollten Ihren Ton mäßigen. Der Vorfall ist bedauerlich, aber aus ermittlungstaktischen Gründen …«
»Der Vorfall ist nicht bedauerlich, sondern ein Skandal«, unterbricht ihn Dingeldey, »denn es handelt sich hier um eine von staatlichen Behörden inszenierte Gefangenenbefreiung, und Sie sind unmittelbar daran beteiligt, zumindest beteiligen Sie sich an der Vertuschung dieses Skandals.« Dingeldey will zu einer breiter angelegten Darlegung der Konsequenzen ansetzen, die unvermeidlich die Folge sein werden, sollte seinen Mandanten etwas zustoßen – da bimmelt die altmodische Türklingel seiner Kanzlei. Weil es Samstagnachmittag ist und sich in der Kanzlei sonst niemand befindet, der dem Besucher öffnen könnte, begnügt er sich mit der Empfehlung, Quadenheuve möge sich doch künftig nicht mehr Ermittlungs-,
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