Schlangenkopf
sitzt, »sondern sie ist immer nur so, wie man sie anschaut.« André ist mit Berndorf in einem Western gewesen: Der Mann, der Liberty Valance erschoss , und hat beim Abendbrot davon berichtet.
»Aber hallo, junger Mann!«, sagt Barbara, »da haben wir ja ein ganz dickes Brett in Arbeit genommen.«
»Sachlich hat er vollkommen recht«, wirft Berndorf ein, der am Tisch sitzt und im Schein einer Stehlampe die Briefe an Andrés Mutter durchsieht, die sich in den letzten Monaten angesammelt haben. André hatte keine Einwände dagegen, fast scheint er froh darüber zu sein, dass sich irgendwer drum kümmert. »Die Frage ist ja nicht nur, wer Liberty Valance erschossen hat, sondern auch, wie es passiert ist.«
»Der John Wayne hat ja erst mal bloß zugeguckt, obwohl er gewusst hat, dass der Rechtsanwalt keine Chance hat! Das ist wie …« André sucht nach einem Vergleich, und Barbara schlägt vor: »Wie die Katze mit der Maus spielt, meinst du das?«
André nickt, und Berndorf wirft ein, dass man die Sache mit etwas bösem Willen noch ganz anders beurteilen könnte. »Bevor man den toten Liberty Valance unter die Erde bringen konnte, hat man einen Leichenbeschauer rufen müssen, soviel Rechtsstaat war auch im Westen, jedenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts. Und wenn der näher hingeschaut hätte, dann wäre ihm die Schusswunde aufgefallen, und er hätte gewusst, dass Valance nicht mit einem Colt, sondern mit einem Gewehr erschossen wurde. Mit einem Winchester-Karabiner, um genau zu sein. So etwas macht nochmal andere Schusswunden, und damit müssen sich die Leichenbeschauer im Westen ja wohl ausgekannt haben … Also könnte man ohne weiteres behaupten, Stoddard habe nur dazu gedient, den Liberty Valance dem Wayne ins Schussfeld zu locken, und die ganze Geschichte sei die eines vertuschten Mordes …« Er öffnet einen weiteren dieser recyclinggrauen Briefumschläge.
»Woher willst ausgerechnet du wissen, was das für ein Karabiner war?«, fragt Barbara und erklärt André, dass Berndorf Schusswaffen verabscheut. »Und woher, dass die Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts spielt?«
»Das war ein Gespräch am Biertisch«, antwortet Berndorf. »Ein Kollege hat behauptet, John Wayne habe da eine Winchester 92 in der Hand gehabt, also eine Waffe aus einer Baureihe, die 1892 auf den Markt kam. Der Kollege war für die Schießausbildung zuständig, kannte sich also aus …« Er hat den Brief überflogen und lässt ihn sinken. »Sag mal, André, deine Mutter hat mal in einem Heim am Wannsee gelebt, stimmt das?«
»Der Elke ihre Mutter wollte, dass sie von jemand adoptiert wird«, kommt die Antwort. »Gleich, wie sie auf der Welt war. Aber es hat sie niemand haben wollen, und so ist sie ins Heim gekommen. Das am Wannsee war das Schlimmste, hat sie gesagt. Nicht bloß, weil die Kinder dort geschlagen wurden. Wenn sie sich erbrochen haben, mussten sie es wieder aufessen. Und das kam oft vor, weil das Essen schlecht war und manchmal widerlich …« Er unterbricht sich und blickt erst zu Barbara, dann zu Berndorf, als müsste er sich vergewissern, dass man ihm auch zuhört.
»Erzähl weiter«, sagt Barbara.
»Einmal sind wir mit der S-Bahn nach Wannsee rausgefahren, und sie hat mir das Heim zeigen wollen, aber da war es schon geschlossen. Und dann sind wir in dem Wald spazieren gegangen, da gibt es einen Weg, der heißt Rotkäppchenweg, aber einen Wolf gibt es dort natürlich nicht, sondern nur Wildschweine, und da im Wald hat sich die Elke mal versteckt, als sie abgehauen ist … Aber dann hat die Polizei sie mit Hunden gesucht, und wie sie wieder im Heim war, hat sie eine Woche Karzer bekommen, so hat das dort geheißen, wenn man die Kinder im Keller eingesperrt hat, wo es ganz dunkel ist und sie ganz allein sind und es auch kein Fenster hat.«
A ndrés Bett ist bezogen, der Esstisch für das Frühstück am nächsten Morgen gedeckt, aber Berndorf will sich noch ein wenig die Füße vertreten. »Pass auf dich auf«, sagt Barbara, als er schon zwischen Tür und Angel steht. »Aber du musst ja am besten wissen, was diese Sache in Rostock für dich bedeutet. Oder für uns.«
Ja, was bedeutet es? Im Augenblick eher nichts, denkt er, Olga ist zu Fuß entkommen, so hieß es in den Nachrichten, also muss sie sich erst wieder einen Wagen besorgen und überhaupt neu aufstellen, bevor sie etwas unternehmen kann. Trotzdem holt er die kleine Stablampe aus der Manteltasche und untersucht das im Hinterhof geparkte Auto. Der Lichtkegel
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