Schlangenkopf
Der Junge ist dort bis fast ans Ende gelaufen, und zwar auf der rechten Seite, also folgt er ihm – die Cola-Dose in der Hand – vorsichtig auf der linken Seite, sich durch die Menschen schiebend, die aus den im Abstand weniger Minuten eintreffenden S-Bahnen auf die Bahnsteige schwärmen. Von Zeit zu Zeit wirft er einen Blick hinüber auf den Bahnsteig der Fernzüge, der ICE nach München ist abgefahren mitsamt seinen Erste-Klasse-Fahrgästen, der Pflastertreter studiert jetzt nicht mehr die Abfahrts- sondern die Ankunftszeiten, und der Dicke steckt noch immer in der Telefonzelle. Hat er sich eingeklemmt und kommt nicht mehr heraus?
Um die Telefonzelle schnürt ein weiterer Mann, der Berndorf doch ein wenig auffällig erscheint, also bleibt er neben einem Pfeiler des Bahnhofdaches stehen und trinkt einen Schluck aus der Dose und sieht sich diesen Anderen an, soweit das über die Entfernung der beiden Gleise hinweg möglich ist: Mittelgroß, der Trenchcoat eine Nummer zu groß, nicht mehr jung, aber mit dichtem, dunklen zurückgekämmten Haar. Noch ein Kieberer?
Mehr beschäftigt ihn, dass er den Jungen nicht sieht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, Berndorf schüttelt den Kopf, dann erblickt er drüben, auf dem anderen Bahnsteig, einen Herrn im sommerlichen Mantel, weißhaarig, das Gesicht mit dem scharfen Profil sonnengebräunt, das aufklappbare Mobiltelefon am Ohr, in einer Haltung, als würde eigens die Sonne scheinen, um eine Modenschau mit ihm als Haupt- und Prachtmannequin auszuleuchten – wie kleidet sich der Mann von Welt, und wie telefoniert er in diesem bevorstehenden Sommer?
Wow! denkt Berndorf. Da siehst du mal, was dir alles abgeht.
Nur das schwarze Mäppchen, das am Handgelenk des eleganten Herrn baumelt, ist ein wenig zu groß geraten, ist als Accessoire ein wenig zu heftig … Plötzlich sieht Berndorf den Jungen an sich vorbeigehen, er wartet kurz und folgt ihm dann, der Junge geht zu einer Sitzbank im mittleren Bereich des Bahnsteigs und bleibt daneben stehen, fast so, als ob er sich dort verstecken wollte.
Berndorf hat einen Abfallcontainer angesteuert und wirft einen Blick hinüber, auf den anderen Bahnsteig. Der Weltmann hat seinen Sonnenplatz verlassen und geht zielstrebig zu einer der Rolltreppen. Der Dicke hat sich aus der Telefonzelle befreit, auch er verlässt nun den Bahnsteig. Berndorf sieht, wie erst der Weltmann, dann der Dicke und zum Schluss mit einigem Abstand der erste der beiden Pflastertreter – der in der Windjacke – auf der Rolltreppe nach unten verschwinden. Dann trinkt er einen letzten Schluck aus der Dose und wirft sie in den Container.
D ie nächste S-Bahn Richtung Alexanderplatz fährt in zwei Minuten, so steht es auf der Anzeigetafel, und der Bahnsteig ist schwarz von Leuten, das ist gut und soll so sein, damit der Plan funktioniert. Noch einmal memoriert André, was er sagen soll, wenn er den Weißhaarigen sieht (aber er soll es erst im letzten Augenblick sagen, so dass er selbst gerade noch in den Zug hineinkommt) …
Herr Matthaus? Bitte die Sendung für Hephaistos!
Und dann die schwarze Mappe nicht gepackt, sondern entgegengenommen – und weg! Das hört sich so leicht an, denkt André, und auch wenn sie es gestern noch geübt hatten, hier oben auf dem Bahnsteig – wie lange die S-Bahn hält, wie lange die Türen offen bleiben. André weiß deshalb, dass er – wenn die Türen sich öffnen – bereits neben diesem Jörg Matthaus stehen und seinen Spruch aufsagen muss, und dann muss Matthaus ihm die Mappe sofort in die Hand drücken, damit er in letzter Sekunde noch einsteigen kann.
Und was, wenn es nicht klappt? Wenn der Bilch mal wieder nicht ganz so schlau war? Und zwar auf Andrés Kosten nicht schlau genug?
Dann ist es eben scheiße gelaufen. Und?
Plötzlich weiß André, dass das Leben eigentlich schon eine ganze Zeit ziemlich scheiße läuft. Das heißt, es kommt auf ein bisschen mehr oder weniger nicht mehr an.
An der Rolltreppe vorne erscheint ein Kopf mit weißer Haarmähne, darunter kommt ein ellenlanger Kerl zum Vorschein. Der Mensch schiebt sich durch die Menge, die er überragt, und bleibt vor den Aushängetafeln mit den Abfahrtszeiten stehen, drei oder vier Schritte von der Bahnsteigkante entfernt. André wirft einen Blick auf die Anzeigetafel, aber da taucht in der Einfahrtskurve der Bahngleise auch schon der viereckige bullige rote Kopf einer S-Bahn auf, es ist die S-Bahn Richtung Alexanderplatz. Wenn man sie so sieht mit ihren
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