Schlangenkopf
Philosophen und Naturwissenschaftlers Georg Christoph Lichtenberg vor, sie muss eine Weile herumprobieren, dann hat sie den Wortlaut.
… Ich kann mir vorstellen, dass ein Mensch, der von einer Kanonenkugel tödlich getroffen wird, in einem sekundenlangen Beben seines Gehirns sein ganzes Leben in einem Punkt sieht und fühlt …
Merkwürdig, dass ihr das jetzt in Erinnerung kommt – nein, weist sie sich zurecht, das ist überhaupt nicht merkwürdig, es ist nur unangemessen und peinlich. Berndorf ist an der linken Schulter verletzt, schlimm genug, es kann sein, dass das Schultergelenk zertrümmert ist, dass mehrere Operationen notwendig sind – das alles ist schlimm, ärgerlich und langwierig. Aber ist er dem Tod begegnet?
Doch, sagt sie sich. Ganz knapp war es. Er war schon so gut wie tot. Aber dann ist er dem Tod doch noch einmal von der Schippe gesprungen. Nein! Es hat ihn einer runtergeschubst. Einer von Mesic‘ Leuten.
Eine Tür öffnet sich, ein Arzt kommt auf den Korridor heraus, es ist der Operateur, ein Oberarzt, noch jung – wenn man jemanden so nennen darf, der auf die Vierzig zugeht und weiß der Teufel wie viele Stunden Notfalldienst hinter sich hat … Nein, sagt er, sie brauche sich nicht zu beunruhigen, voraussichtlich werde keine zweite Operation notwendig sein, aber gewiss würden der Heilungsprozess und die Rehabilitation einige Zeit in Anspruch nehmen.
D er Aufgang von der Metro-Station Odéon entlässt einen neuerlichen Schwall von Menschen auf den Boulevard St. Germain, unter ihnen ist auch André. Er ist müde und vermutlich hungrig, auch wenn er den Hunger gerade vergessen haben mag. Vor ein paar Stunden ist er in Paris angekommen, am Gare de L’Est, nach einer Fahrt in der Ersten Klasse, da ist er sich schon merkwürdig vorgekommen in seinen Jeans und seinem alten Anorak. Aber was soll man tun, wenn man so ein Ticket hat? Unweit vom Bahnhof hat er ein kleines schäbiges Hotelzimmer bekommen, trotzdem wollte die Alte, die das Hotel hütet, seinen Pass sehen, und so ist er nun einmal als Vanessa Kleinschmidt, 19 Jahre alt, dort eingetragen.
Angeblich ist er eine Étudiante . Eine Studentin. Warum auch nicht? Niemand ist perfekt. Für drei Nächte hat er im Voraus bezahlt. Damit bleiben ihm noch knapp dreihundert Euro.
Er war schon schlechter dran.
Nur der Boulevard St. Germain … Aus irgendeinem Grund hat er angenommen, dass der was Besonderes wäre. Das heißt, nicht aus irgendeinem Grund. Sondern weil es dazu ein Lied gibt, das die Elke mag. Nur ist der Boulevard St. Germain ein bisschen wie der Ku-Damm. Man geht einmal drüber oder fünf Mal, und es ist immer das gleiche.
Er ist an einer Ecke angekommen, an der eine andere Straße kreuzt, der Boulevard St. Michel, und plötzlich entdeckt er etwas, das ihn wirklich interessiert.
Es ist ein Laden für Comics.
Nur, dass sie hier nicht so heißen. Plötzlich holt er das Wörterbuch vor, das im Köfferchen der Vanessa war, und blättert darin. Travail – wie zum Teufel spricht man das aus?
D as Auto stand tatsächlich an der Stelle, die Berndorf ihr beschrieben hat, und nichts ist zerkratzt oder kaputt, das ist auch nicht selbstverständlich. Sie fährt am Büro vorbei – nicht mehr oft!, denkt sie – und steuert den Torplatz an. Radio Fünf Neunundsechzig bringt zum Glück und ausnahmsweise einmal keine Schnulzen und keine Schmachtfetzen, sondern die Übertragung einer Pressekonferenz zu der Schießerei in der Ruine der Franziskanerkirche, eine Stimme – sie gehört dem Senatsrat Missenpfuhl – erläutert in einem Tonfall, in dem sich Understatement und Großschnäuzigkeit auf unnachahmbar berlinische Weise mischen:
… wenn Sie mich so fragen, ist das ein Anschlag auf die Veranstaltung in der Kirche gewesen, da haben wir gar keinen Zweifel, aber wir haben keine Hinweise darauf, dass die Attentäterin, die ja selbst ums Leben gekommen ist, einen islamistischen Hintergrund gehabt hätte, wir ermitteln in jede Richtung … Natürlich haben wir eine satte Portion Glück gehabt, auch wenn noch ein paar Leute in der Charité liegen, einer ist ja angeschossen worden von dieser Frau, andere haben sich ja im Gedränge verletzt, Lebensgefahr besteht meines Wissens bei keinem … Aber da machen wir uns nichts vor, das hätte ziemlich böse ausgehen können … Nein, zu der Person, die die Attentäterin gestoppt hat, kann ich im Augenblick keine Informationen geben, hier sind noch Abklärungen erforderlich, ich könnte mir
Weitere Kostenlose Bücher