SCHLANGENWALD
das sieht niemand, weil es dort dunkel ist, und Putzpersonal kommt ja vor der Eröffnung noch keins. Vorher würde ich aber an deiner Stelle alles, was nicht entdeckt werden sollte, sicher verstecken. Ich will dir keine Angst machen, aber du solltest vorsichtiger sein.“
Die Worte erinnerten Paula an Juan Blanco.
„Ich werde dir zum richtigen Zeitpunkt mehr erzählen. Einstweilen musst du mir einfach vertrauen. Wir sehen uns morgen beim Frühstück um halb neun bei Emilio, okay?“
Paula verzog ihr Gesicht. Die Vorstellung, Kandin schon beim Frühstückskaffee zu sehen, behagte ihr unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht.
„Du kannst natürlich auch erst um neun Uhr kommen, dann ist er sicher schon in seinem Büro und hält mir wieder eine Standpauke“, ergänzte Ricarda grinsend.
Nachdem sie gegangen war, schloss Paula den Bungalow ab und klemmte einen Stuhl unter die Türklinke. Sie hatte keine Lust auf nächtliche Besucher, auch wenn sie nicht ernsthaft annahm, dass ihr Gefahr drohte. Dennoch machte sie sich die Mühe, alle Unterlagen, die Kandin nicht sehen sollte, zusammenzusuchen. Fürs Erste steckte sie diese in ihre Laptoptasche. Am nächsten Tag würde sie sich ein besseres Versteck überlegen. Sie durchsuchte nochmals alle Schubladen und schüttelte jedes Kleidungsstück einzeln aus – die Visitenkarte von Blanco war und blieb verschwunden.
Fünfzehn
Sonntag
1.
Am nächsten Morgen fand Paula auf der Türschwelle des Bungalows einen kleinen Papiersack mit Mehl. Sie verstreute das weiße Pulver hauchdünn an einigen Stellen im Zimmer. Auch vor der Kommode, deren Schubladen mittlerweile leer waren.
Wenn sie jemand so sah, würde er glauben, dass sie völlig übergeschnappt sei, dachte Paula und ging frühstücken. Es war bereits nach neun Uhr und von Kandin war nichts zu sehen. Die Sonne schien, das Meer glitzerte wie mit Diamantenstaub überzogen. Paula vergaß bei Kaffee und Eierspeise fast alles, was dieses Paradies momentan trübte. Daran konnte auch die Vorstellung, die nächsten Stunden mit Kandin verbringen zu müssen, nichts ändern. Wenig später spazierte sie zum Büro. Offenbar war Ricarda bei Kandin, denn gerade als Paula eintreten wollte, hörte sie, wie er auf Spanisch laut zu wettern anfing. „Du darfst sie nicht aus den Augen lassen. So etwas wie vorgestern darf nicht mehr passieren. Du weißt, dass es hier einiges gibt, von dem sie nichts mitbekommen darf …“
Paula konnte die Antwort Ricardas nicht hören, sie vernahm nur undeutliches Gemurmel.
„Ich muss mich auf dich verlassen können. Immerhin wirst du großzügig entlohnt. Und vergiss nicht ihr Zimmer gründlich zu durchsuchen. In einer Schublade verwahrt sie irgendwelche Schriftstücke. Die will ich mir ansehen. Ich habe bei der Frau das Gefühl, dass sie ihre Nase auch in Dinge steckt, die sie nichts angehen. Lass sie nicht aus den Augen und informieremich regelmäßig über alles, was sie tut. Wir können es uns nicht leisten, dass sie hier Wirbel macht.“
Paula sah zu, dass sie davonkam. Was sie gehört hatte, genügte. Kandin durfte auf keinen Fall mitbekommen, dass sie Teile des Gesprächs belauscht hatte. Sie musste so rasch wie möglich zurück in den Bungalow, um den Laptop samt Tasche an sich zu nehmen.
Wie hatte Kandin Ricarda genannt? Seine Vertrauensperson!
Paula war wütend über sich selbst, dass sie so naiv gewesen war und Ricarda vom Fleck weg geglaubt hatte. Sie hatte so geschickt ihre Freundschaft gewonnen, und Paula war prompt darauf hereingefallen. Die Tipps mit dem Mehl, um den Schnüffler zu ertappen, und der fürsorgliche Hinweis vorsichtiger zu sein!
Die Entdeckung, dass Ricarda wohl auch Blancos Visitenkarte hatte verschwinden lassen, war enttäuschend. Sicher würde sie sich beim nächsten Besuch über das verstreute Mehl in Paulas Bungalow amüsieren. Wahrscheinlich hatte sie sich schon darauf eingestellt und trug Männerschuhe, um die dumme Österreicherin in die Irre zu führen. Je länger Paula darüber nachdachte, umso größer wurde ihr Ärger über Ricardas Falschheit. Als sie beim Bungalow angelangt war, kochte sie innerlich. Wütend zerschmetterte sie eine Keramikschale auf dem Boden. Dann holte sie den Laptop und lief aus dem Haus. Sie sperrte nicht einmal ab. Wozu auch, wenn hier ohnehin jeder ein und aus ging. Welcome stand auf der Fußmatte. Der freundliche Willkommensgruß hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen. Auf keinen Fall wollte sie Ricarda begegnen.
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