SCHLANGENWALD
mit einem Tastendruck bequem abrufen konnte, wusste doch kaum jemand mehr Rufnummern auswendig. Paula am allerwenigsten. Weder die ihrer besten Freunde noch die neue Nummer der Eltern hatte sie sich gemerkt. Mit dem Verlust ihres Handys und des roten Registers hatte sie von einem Moment auf den anderen keine Möglichkeit mehr, mit Familie und Freunden in telefonischen Kontakt zu treten. Alles, was ihr an Daten noch blieb, waren deren E-Mail-Adressen im Laptop.
Paula kauerte sich auf ihr Bett und verstand die Welt nicht mehr. Wo war sie hier nur hineingeraten? Sie fühlte sich so mutterseelenallein. Aus welchem Grund setzte Kandin alles daran, sie von der Außenwelt abzuschotten? Was sollte sie jetzt tun? Kandin zur Rede stellen? Den Gedanken verwarf sie sofort.
Wie gut, dass sie Blancos Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben hatte. Der steckte nach wie vor sicher in ihren Jeans.
Es klopfte an der Tür.
„Bist du noch wach?“, hörte sie Ricarda flüstern.
Paula antwortete nicht. Sie hatte momentan keine Lust, ihre Falschheit zu ertragen.
Paula ging in der Anlage spazieren. Je weiter sie lief, umso verwirrender wurde ihr Traum. Die Anlage war zu einem Labyrinth geworden, immer wieder kam sie bei denselben Häusern vorbei,die jedes Mal übermächtiger und größer waren. Schließlich wuchsen sie wie Wolkenkratzer über ihrem Kopf zusammen. Wohin sie trat, verwandelte sich die Natur in eine Steinwüste. Sie flüchtete zum Strand. Die Zehen versanken im feinen Sand, sanfte Wellen umspülten ihre Füße. Sie wollte ein Handtuch aufbreiten, doch der Strand verwandelte sich plötzlich in eine unendliche Betonfläche und zum Meer hin wuchs eine hohe Mauer. Paula packte alles zusammen und wollte weglaufen, doch die Mauer rückte immer näher.
Sechzehn
Montag
1.
Handy und Adressbuch waren und blieben auch am nächsten Morgen verschwunden. Paula beschloss, ihre Freunde per E-Mail zu kontaktieren.
Doch dazu fehlte ihr die Gelegenheit. Kandin hatte ihren Arbeitsplan für die nächsten Tage zusammengestellt. Sie musste an jenen organisierten Exkursionen teilnehmen, die den Urlaubern nach der Eröffnung der Freizeitanlage angeboten werden sollten. Paulas Aufgabe war es, das Programm und die Betreuung zu testen und gleichzeitig Land und Leute besser kennenzulernen, um in den Informationstexten das entsprechende Stimmungsbild vermitteln zu können. Bereits für den heutigen Tag hatte Kandin eine Tour für sie gebucht, die Paula die umliegenden Strände und deren Besonderheiten näherbringen sollte. Am Mittwoch würde er höchstpersönlich umliegende Gastronomiebetriebe und Farmen mit ihr abklappern.
Den Höhepunkt der Woche stellte der Ausflug am Donnerstag dar. Paula sollte frühmorgens mit einer Reisegruppe eine Tour zum Parque Nacional Barra Honda machen. Für diesen Ausflug drückte ihr Kandin zwei Informationsblätter und einen bunten Prospekt in die Hand.
„Sie sollten sich beeilen. Der Fremdenführer wird Sie um elf Uhr am Eingang der Anlage abholen. Er heißt Julio und spricht sehr gut Englisch. Er hat von mir den Auftrag erhalten, nicht von Ihrer Seite zu weichen, damit Ihnen nichts passiert.“
Paula bedankte sich bei Kandin für die interessante Programmgestaltung. Sie war froh, die nächsten Tage nicht in derFerienanlage verbringen zu müssen, sondern die Umgebung und einige Sehenswürdigkeiten kennenzulernen. Vielleicht kam sie während der Tour bei einem Internetcafé vorbei.
Im Bungalow stopfte sie rasch eine Landkarte, Regenschutz, den Fotoapparat, ein kleines Handtuch und einen Pullover in den Rucksack. Unter dem T-Shirt und den Jeans trug sie einen Bikini. Mit diesem Zwiebellook war sie auch für etwaige Wetterkapriolen gerüstet.
Wenn sie eine Strandtour machten, konnte sie vielleicht einige Sonnenstrahlen ergattern. Sonne war bekanntlich gut für die Nerven und ihre waren ein wenig angespannt. Wie hatte Santo gesülzt? Es würde wie Urlaub sein, man würde sie auf Händen tragen. Wenn er wüsste, dass man darüber hinaus jeden ihrer Schritte beobachtete.
Den Gedanken, den Laptop im Zimmer zu verstecken, verwarf Paula sofort. Darum stopfte sie ihn und alle Unterlagen ebenfalls in den Rucksack. Es war ihr lieber, die paar Kilo mehr zu schleppen, als den ganzen Tag ein flaues Gefühl zu haben, weil sie das Gerät im Bungalow zurückgelassen hatte.
Julio erwartete sie wie angekündigt am Tor. Er reichte Paula gerade bis zur Augenhöhe und war durch und durch ein drahtiges Kerlchen. Seine
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