Schlechte Gesellschaft
verformt. Seine Augen waren geöffnet. Sie blickten glasig auf die dunkle Pfütze, die sich unter seiner Wange bildete. Hella schien es, als würden seine Lippen zittern. Sie kniete jetzt neben ihm, tastete seine Arme und Beine nach Brüchen ab, suchte den Puls. Aber da war nichts mehr. Nur noch eine letzte, rasch abnehmende Wärme.
Showdown I (Juni 2007)
»Es gibt nicht die eine Wahrheit hinter den Dingen«, rief Reinier Westphal gegen das Motorengeräusch an. »Ich möchte, dass aus jeder Folge der Villa diese Einsicht spricht, eine echt Vahlensche Einsicht, die der Serie ihre besondere Melancholie verleiht.«
Judith saà neben ihm auf dem Beifahrersitz. Der Schal, mit dem sie ihr Haar vor dem Fahrtwind schützte, verstärkte noch den Eindruck ihres kindlichen Gesichts. Westphal war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Vielleicht hätte er lieber den Kombi nehmen sollen, überlegte er. Aber die Sonne schien, und er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, vor Hellas Tochter mit seinem Cabriolet anzugeben.
»âºDein wahres Glück, oh Menschenkind, so denke doch mitnichten, dass es erfüllte Wünsche sind, es sind erfüllte Pflichtenâ¹, wie es der Philosophische Gärtner so schön formuliert hat. Allerdings hat Goethe das zuerst gesagt.« Der Produzent zwinkerte Judith zu. Diesmal lächelte sie zurück.
Mit einer Frau wie Judith an seiner Seite musste ein Mann unbesiegbar sein, dachte Westphal. Sie war zu ihm gekommen, weil sie wollte, dass er sich bei ihrer Mutter für die Veröffentlichung des neuen Manuskripts einsetzte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass auf dem Dachboden der Vahlens Stoff für weitere Folgen lagerte. Er war auch nach wie vor nicht sicher, ob Judith ihm das Manuskript zur Verfilmung überlassen wollte. Noch am Morgen hatte sie an der letzten Staffel herumkritisiert. Die Serie habe kaum mehr etwas mit dem zu tun, was Peter Vahlen gewollt habe, und so weiter. Es war als habe sie ein genaues Bild ihres Vaters und seiner Geschichte in ihrem Kopf, an dem niemand rücken durfte. Es war als spräche Hella Vahlen selbst.
Sie fuhren die BundesstraÃe am Rheinufer entlang. Unter ihnen glitzerte das Wasser in der Nachmittagssonne.
»Du weiÃt sicher, dass der Philosophische Gärtner meine Erfindung war«, rief Westphal. »Ich brauchte ihn, um die Handlung,die manchmal zerläuft â in eine prosaische Larmoyanz, sagen wir mal â, um diese Handlung zuzuspitzen.« Diesmal bedachte er Judith mit einem entschuldigenden Lächeln. »Heute ist Freddy laut Umfragen die beliebteste Serienfigur Deutschlands. Noch vor Hasso Boll, Minna Maria Thalheim oder den amerikanischen Superstars und brasilianischen Telenovela-Sternchen.«
Westphal überlegte, ob er erwähnen sollte, dass ein Orangensaft-Hersteller angefragt hatte, mit dem Philosophischen Gärtner zu werben. Eine Kaffeerösterei hatte ihn sogar billig imitieren lassen. Aber er war nicht sicher, ob Judith über so etwas lachen konnte.
Schon waren die Atommeiler von Arlich zu sehen. Die Gegend wirkte aufgeräumter als noch vor Jahren. Gleich mehrere SchnellstraÃen führten die Anhöhen nach Melsbach und Datzeroth herauf. Hinter einer Biegung tauchte der Kirchturm von Sehlscheid auf. Nördlich davon lag die Hüh, auf der sich Ãrzte und Anwälte Bungalows mit Blick über das Aulbachtal gebaut hatten.
Auf Wunsch der Gemeinde und mit groÃzügigen Fördermitteln des Landes hatte Westphal vor einiger Zeit versucht, zumindest AuÃenaufnahmen in Sehlscheid zu arrangieren. Mehrfach war er mit den Historikern die Gassen des Oberdorfes abgegangen, aber es war kaum noch etwas übrig von den alten Gasthäusern, den Kettenschmieden und Töpferstuben. Und schlieÃlich hatte er sich mit ein paar Wald- und Wieseneinstellungen bei den Landesvätern herausgeredet.
Nach einer Linkskurve kamen sie am Brunnen der Bürgermeisterei mit den neugestalteten Einkaufsarkaden vorbei. Dann war im Tal bereits das Haus der Vahlens zu erkennen.
»Da ist sie ja, eure Villa Westerwald!« Westphal wandte sich zu Judith um, damit sie seinen begeisterten Gesichtsausdruck sah.
Sie bogen in die Auffahrt ein. Die Pappeln am Wiesenbach blitzten silbrig auf. Vor der Treppe des Hauses parkte ein kleiner, weiÃer Wagen, ein amerikanisches Modell.
»Das ist Gellmanns Auto«, sagte Judith. Zum ersten Mal, seit sieam
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