Schlechte Gesellschaft
Objekt der Begierde â der wohlmeinende Freund, der nichtsnutzige Schwiegersohn, der Philosophische Gärtner, der am Ende die Handlung zusammenfasste â, während die Frauen handelten.
Gleich morgens war Wieland, den Schlaf noch in den Augen, in die Drogerie-Filiale geeilt und hatte sich, ohne auf das triumphierende Grinsen der Verkäuferin zu reagieren, die restlichen vier Staffeln besorgt. Im Frühstücksraum des Hotels schlang er zwei Hörnchen herunter. Endlich zurück in seinem Zimmer, warf er sich aufs Bett und drückte den Knopf der Fernbedienung.
Schon seit zwei Folgen musste er dringend auf die Toilette. Aber er brachte es nicht über sich, die DVD anzuhalten. Die Details der Handlung schienen ihm oft an den Haaren herbeigezogen. Auch die Figuren waren merklich platter als im Roman. Das wollte er auch Kittel sagen, wenn er ihn das nächste Mal traf. Aber die Dialoge waren gut geschrieben, das Dekor war gelungen, und die Frauen derFamilie Krieger waren ihm schon nach wenigen Folgen so vertraut, dass er meinte, sie tatsächlich zu kennen. Die Art, wie die Alte das Unternehmen leitete, ihren Freund und die Kinder herumkommandierte und die Villa Westerwald vor Unheil, inzestuösen Verbindungen und schleichendem Bankrott mehr schlecht als recht bewahrte, beeindruckte ihn, ohne dass er genau gewusst hätte, warum.
Aus dem Hotelrestaurant drang das Scheppern und Klappern von Tellern und Töpfen herauf. Sicher schlossen sie gerade die Küche. Aber Wieland war ohnehin schlecht, seit er mittags den Thunfischsalat, die Kartoffelchips und dann auch noch alle Schokoriegel aus dem Drogeriemarkt aufgegessen hatte. AuÃerdem wollte er unbedingt wissen, ob »die Tochter« mit ihrem nichtsnutzigen Halbbruder oder mit dem geheimnisvollen Fremden geschlafen hatte und ob »die Alte« tatsächlich den Immobilienhändler hatte umbringen lassen, weil er ihr Geheimnis verraten hatte.
Vielleicht war es seine Einsamkeit am Schreibtisch, die ihn so anfällig werden lieà für die doch eher schlichten Reize einer Fernsehserie, dachte Wieland â eine Art Liebesersatz, Freundschaftsersatz, Geschwisterersatz für Unglücks- und Einzelkinder wie ihn. Vielleicht war es auch nur der Schlafmangel der letzten Tage, der ihn so weit gebracht hatte, dass »die Familie« fast zu seiner eigenen geworden war. Nur sein Herzklopfen, wenn »die Tochter« die Szene betrat, das schien ihm eindeutig echt. Er musste an Judith denken, wie sie ihn angelächelt hatte. Und fast kam ihm sein Besuch bei den Vahlens nun wie eine weitere, merkwürdige Folge der Serie vor.
Jetzt meinte Wieland doch, ein Klopfen an der Tür zu vernehmen. Er warf die Bettdecke zur Seite und sprang auf. Bestimmt machte sich die Wirtin Sorgen, weil er nicht zum Mittagessen erschienen war. Das war das Schlimme daran, wenn die Leute ihn mochten, dachte er. Viele konnten es einfach nicht lassen, sich in seine Angelegenheiten einzumischen.
Er kämpfte mit dem Knopf der Jeans, zog kurzerhand das T-Shirt über die offenstehende Hose und suchte im Bett nach derFernbedienung. Hoffentlich wollte die Wirtin nicht den DVD-Spieler ihres Sohnes zurückhaben, dachte er. SchlieÃlich hatte er ihn nur für den gestrigen Abend ausgeliehen. Er fand die Fernbedienung unter der Packung Kekse, hielt die DVD an und stellte den Fernseher stumm. Jetzt war das Klopfen deutlich zu hören.
»Ich komme!«, rief er in etwas verärgertem Tonfall, um das Vordringen der Wirtin vorsichtshalber gleich zu bremsen. Er lief zur Tür, drehte dann aber noch einmal um und wischte hastig die Krümel vom Bett. »Wer ist denn da?«
»Judith«, antwortete eine leise Stimme.
Im Gebück (Jahreswechsel 1903â1904)
Im kalten November von 1903 überzog eine klamme Wolkendecke den unteren Westerwald. Morgens verschwand der Reif nur langsam von den Feldern. Bis zu den Fesseln eingesunken stand das Vieh im aufgeweichten Grund. Nachts zog der Frost in das Dorf herunter, sickerte durch die Türen und Fenster bis in die spärlich beheizte Stube des kranken Lehrers.
Ferdinand Schütz hatte nie geheiratet. Wenn Irma ihn erhört hätte, sagte man sich auf dem Burplatz, dann hätte ihr Sohn einen Vater gehabt. Und vielleicht wäre überhaupt alles anders gekommen.
Doch als die Vahlen-Witwe am Abend nach Allerheiligen mit ihrer Brühe ins Gebück kam, um nach dem alten Lehrer zu schauen, war es
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