Schlechte Gesellschaft
wiederholen. Die richtigen Eltern des Jungen würden sich bestimmt bald melden, sagte er schlieÃlich und schickte die Witwe nach Hause.
Erst als das neue Jahr längst begonnen hatte, als alle Hungermäuler das Dorf verlassen hatten, und noch immer niemand nach Hagis gefragt hatte, stellte der Gemeindevorsteher auf Kläres wiederholtes Drängen hin eine Anfrage in Koblenz. Aber auch dort fand niemand heraus, zu wem der Junge gehörte. Man hatte allerdings in Köln die Bestätigung einholen können, dass Frau Benning tatsächlich nur ein Mädchen nach Sehlscheid geschickt hatte, dass keine Familie Kind im Einzugsgebiet wohnhaft war und dass keine Familie Gisbert einen kleinen Jungen vermisste.
Die Besatzer mischten sich nicht ein. Mit dem Ausdruck gröÃter Geschäftigkeit lieà der Dolmetscher den Gemeindevorsteher seine Arbeit tun. Der junge Kehl, der täglich in der Amtsstube vorbeischaute,um den Besatzern seine Dienste anzubieten, begann auf dem Besucherstuhl die Augen zu verdrehen, wenn die Vahlen-Witwe zur Tür hereinkam. Der Gemeindevorsteher Linde, der durchaus verstanden hatte, dass es Kläre nicht darum ging, den Jungen loszuwerden, meinte sie nach dem fünften ihrer Besuche beruhigen zu dürfen. »Da können wir nur abwarten«, sagte er. »Das Kind ist ja in der Zwischenzeit bei euch gut aufgehoben.«
Nachdem die Tür der Amtsstube an diesem kalten Frühjahrsmorgen hinter ihr zugefallen war, zog Kläre Vahlen den kleinen Hagis wortlos die Vortreppe hinunter und verlieà rasch den Dorfplatz. Erst im Hohlweg unterhalb der Hüh hielt sie an, schob die Wollmütze in das vom Laufen gerötete Gesicht des Jungen, wickelte ihm den Schal, den ihm die alte Vahlen gestrickt hatte, enger um den Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Hagis lächelte.
»Nach Hause?«, fragte er.
Kläre atmete tief ein. Sie nickte und lächelte zurück. Die Angst fiel langsam von ihr ab. Aber zugleich war da wieder das andere bedrückende Gefühl, woanders müsse jemand diesen kleinen Jungen, den sie so gerne bei sich behalten wollte, schmerzlich vermissen.
Abends dachte Kläre daran, wie Rudolf auf den Schlachtfeldern von Ypern um sein Leben gekämpft haben musste. Um die rechtzeitige Nachricht seines Todes betrogen, konnte sie noch immer nicht glauben, dass es ihn nicht mehr gab. Als müsse eine Mutter es spüren, wenn ihr Sohn ums Leben kam. Als habe sie, die ihn ja fortgeschickt hatte, das Recht verloren, um ihn zu trauern.
Nachts träumte Kläre davon, wie sie ihre Kinder suchte. Sie rannte, die Beine und Arme schmerzten, kaum bekam sie Luft. Die Kinder waren nicht zu sehen. Sie lief ohne anzuhalten, sie meinte ein Lachen zu hören oder ein Weinen. Sie rief nach ihnen, aber sie bekam nie eine Antwort.
Der Finger (Oktober 1971)
Den ganzen Nachmittag war es nicht richtig hell geworden. Es regnete in Strömen. Gellmann hatte geplant, gemeinsam mit Ingeborg zu kochen. Solche Abende waren selten geworden. Meistens waren sie jetzt mit den Treffen beschäftigt, in Kellerräumen oder Wohngemeinschaften, sie planten Kundgebungen und bereiteten an der Druckpresse Flugblätter und Plakate für Demonstrationen vor.
Ingeborg war streng, was das Engagement anging. Und Gellmann machte mit, weil sie ihm gefiel. Er mochte ihre nervöse Begeisterung, ihre katzenhaften, kleinen Bewegungen und ihre Freizügigkeit. Es interessierte ihn nicht mehr, wo die Leute hinwollten mit ihren Ideen. Längst hatte er die »Revolution« und ihre vielen Regeln satt.
Als die Protestaktionen komplizierter und gefährlicher wurden, nahm er Abstand, übernachtete zwischendurch auch bei anderen Frauen, ohne dass Ingeborg darauf mit mehr als einer vorübergehenden Distanziertheit reagiert hätte. So druckte Gellmann noch, klebte aber keine Plakate mehr und machte auch nie mit, wenn es um gröÃere Aktionen ging. Trotzdem fühlte er sich wohl. Er notierte, was er sah, begann wieder an eigenen Projekten zu arbeiten, für die er seine Beobachtungen nutzen wollte â in Form eines Tagebuchs oder eines dokumentarischen Theaterspiels. Es sollte ein Zeitstück werden.
Und dann war plötzlich Hella am Telefon gewesen. Sie meldete sich mit heiserer Stimme. Gellmann gab den Hörer gleich an Ingeborg weiter, weil er sie für eine ihrer Kolleginnen aus der Musikschule hielt. Erst als Ingeborg am Apparat verstummte, verstand er,
Weitere Kostenlose Bücher