Schlechte Gesellschaft
Feldwege ein. Im Oberdorf lehnten die Frauen stumm an den Türen ihrer Häuser. Die meisten Männer waren noch immer nicht von der Front zurück.
Kurz vor Weihnachten lieà sich eine der durchkommenden Truppen im Ort nieder. DreiÃig Infanteristen sollten die Fockenbach-Werke bewachen, die vorläufig ihre Tore hatten schlieÃen müssen. Wofür aber die Versorgungseinheit benötigt wurde, die aus vierzig schwarzen Männern bestand, wusste keiner so genau. Hermann Vahlen war der erste, der in der Gastwirtschaft die Vermutung äuÃerte, die schwarzen Besatzer seien da, um dem Dorf die Schande der Niederlage vorzuführen.
Ein Offizier bezog das Büro des Gemeindevorstehers. Die weiÃen Soldaten quartierte man auf den gröÃeren Höfen im Unterdorf ein. Bis auf weiteres wurde die Schule geschlossen, damit die schwarzen Männer dort ihr Lager aufschlagen konnten. Sie schliefen dicht aneinandergedrängt auf Strohmatratzen, trockneten ihre Unterhosen über Wäscheleinen, die sie zwischen der Tafel und dem Kohlenofen gespannt hatten, und kochten abends auf dem Schulhof über offenem Feuer Bohnen.
In kürzester Zeit war es nicht nur eng, sondern auch noch ärmlicher in Sehlscheid geworden. Die Plünderer aus den Städten blieben dank der bewachten Besatzungslinien aus. Dafür bedienten sich die Soldaten in den Gasthäusern und auf den Höfen mit dem Appetit junger Männer, die â wie die Haushälterin des Pfarrers bemerkte â »fern ihrer guten Kinderstube« waren. Die RunkelscheKettenschmiede wurde zur Werkstatt ausgebaut, vor der die Kraftwagen der Besatzer bald in langen Reihen zur Reparatur anstanden. Und mit Hilfe des jungen Kehls, der den Amerikanern seit ihrer Ankunft nicht mehr von der Seite gewichen war, fanden sich die Fremden schnell zurecht.
Allgemein sah man es als glückliche Fügung, dass rechtzeitig zum Weihnachtsfest die Familien der aufgepäppelten Kinder kamen, um ihre Söhne und Töchter nach Hause zurückzuholen. Und doch fiel es den meisten der Dorfbewohner schwer, sich von ihren »Hungermäulern« zu trennen. Albert Kehl, der nun seine Haare mit Pomade zurückgekämmt trug, hatte sich bereit erklärt, die Eltern gegen eine kleine Entschädigung zu den Unterkünften der Kinder zu führen. Dabei drängte er die Sehlscheider Familien zum Abschied und zerrte unter heftigem Knurren seiner Hunde an den Kindern.
Ausgerechnet die Haushälterin des Pfarrers, die während des vergangenen Jahres immerhin vier Hungermäuler in der Pfarrstube beherbergt hatte, versuchte er, wie man sich später im Dorf erzählte, bei ihren Küssen zu unterbrechen. Doch die sonst so gelassene Frau drehte sich unvermittelt zu Kehl um und spuckte ihm auf seine blankgeputzten Stiefel. Kehl geriet sofort auÃer sich. Brüllend und zitternd drohte er ihr, dem Besatzer von ihrem Betragen zu berichten. Aber das Fräulein hatte keine Angst: »Das wird der liebe Gott schon regeln zwischen uns, da brauchst du deine Amerikaner nicht«, sagte sie.
Auch auf der Hüh rechnete man damit, dass Doris und Hagis bald abgeholt würden. Nur vier der fremden Kinder waren überhaupt bis nach Weihnachten geblieben. Aber weder Irma noch Kläre sprachen über den baldigen Abschied, und auch Martha versuchte, den Gedanken daran weit von sich zu schieben.
Längst war ihr Hagis so nah wie ein Bruder. Frühmorgens überfiel er Martha mit Küssen in ihrer Kammer. Wenn sie vom Füttern der Tiere in die Küche zurückkam, war Hagis schon über den Stuhl zur Anrichte hinaufgeklettert, um dem stummen Heinrich einenApfel zuzuwerfen. Auf dem Hof veranstaltete er wilde Verfolgungsjagden mit dem Hund Schnapp. Und abends erzählte er Martha atemlos, was er erlebt hatte, bis GroÃmutter Irma zu schimpfen begann und sie beide ins Bett schickte.
An einem späten Dezembermorgen, an dem sich der Nebel nur langsam in die Hohlwege und Gräben um Sehlscheid hinabsenkte, melkte Martha im Stall die Ziegen, als plötzlich der junge Kehl in seinen Militärstiefeln vor ihr stand. Sie hatte ihn übers Stroh nicht kommen hören und mit seinem glattgezogenen Scheitel auch nicht gleich erkannt. Sie erschrak, und Kehl grinste hämisch. Er war nicht viel älter als Hermann. Aber wie die meisten Dorfbewohner kannte Martha ihn kaum.
»Buh«, machte er. »Hab ich dir Angst gemacht, kleine Martha? Wo sind
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