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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
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hatte Hella vorgehabt, nur die Papiere und Hinterlassenschaften in Ordnung zu bringen, als ginge die Geschichte selbst sie gar nichts an. Sie wollte das Haus leerräumen und so schnell wie möglich verkaufen. Obwohl Vahlen derjenige von beiden war, der in Sehlscheid aufgewachsen war, und obwohl er meinte, dort noch immer den essigsauren Atem der Nachkriegszeit zu riechen, hatte er als erster begonnen, von ihrem neuen Leben auf dem Land zu träumen.
    Das Dorf hatte sich Ende der sechziger Jahre vom Krieg weitgehend erholt. Die Sommergäste kamen wieder zahlreich. Eine letzte Verwandte, Hermanns Schwiegertochter Hilde, erweiterte schon zum zweiten Mal den Gasthof im Gebück. Für ein modernes Kurzentrum, das in seinen ganzen Ausmaßen wohl nie fertiggestellt werden würde, hatten die Sehlscheider Honoratioren die Gemeinde auf Jahrzehnte unter Schuldenbergen begraben. Und doch hatte Vahlen sie gleich wiedererkannt, die unversöhnliche Einteilung der Welt seiner Kindheit in Brauchbar und Unbrauchbar, den neidischenBlick auf die Kirschen des Nachbarn. Er sagte sich, dass Sehlscheid nie brauner gewesen war als irgendein anderer Ort. Aber noch immer hörte er das sperrige Wort aus dem Mund seiner Mutter – Hermann Vahlen habe ihren Onkel Kehl »denunziert«. Und es beruhigte ihn kaum, dass der inzwischen uralte Förster Ranke, der ihn nach seiner Rückkehr in den Westerwald als einziger im Gasthaus an den Tisch gewinkt hatte, ihm auf seine Fragen hin sagte, dass auch Albert Kehl nie ein Gegner der Nazis gewesen war.
    Zum ersten Mal verstand Vahlen damals, warum die genauen Umstände niemanden zu interessieren schienen. In den Erinnerungen und Erzählungen der Dorfbewohner verdrehten und verflochten sich die Hergänge und Schuldigkeiten. Auch in Vahlens Kopf verschwamm alles, je mehr er darüber wusste. Trotzdem hätte er sich gerne weiterhin empört, gefiel ihm diese Vermischung nicht. Denn die Fortschrittswut der Alten, die kaltblütige Abschaffung ganzer Lebenswelten, war für Vahlen eine direkte Folge ihres Willens, die Nazi-Zeit vergessen zu machen.
    Nach und nach war das düstere Haus mit dem rostigen Wintergarten und dem Marmor der Eingangshalle doch zu ihrem geworden. Hella konnte als Vertretung in den Arztpraxen der Umgebung arbeiten. Und Vahlen lernte mit den früheren Nachbarn zu sprechen, nicht als einer von ihnen, sondern als der Fremde, der er für sie geworden war. Zwischen den Stipendien und seiner Gastprofessur an einer amerikanischen Universität hatten sie sich bald eingerichtet im Westerwald. Der Traum vom Leben auf dem Land war Realität geworden, auch wenn diese manchmal einer Resignation glich.
    Oft kam Vahlen alles zu einfach vor. Hellas außergewöhnliche Schönheit, sein Erfolg, das Haus – ihr Leben wirkte zu stimmig, zu rund. Was er am Anfang ihrer Beziehung noch für ein glückliches Zusammentreffen der Umstände gehalten hatte – ihre Vertrautheit, die vielen Gemeinsamkeiten – erschien ihm, zurück in Sehlscheid, wo ihrer beider Eltern einmal gelebt hatten, zunehmend wie eine unfruchtbare Gleichförmigkeit.
    Es hatte ihn nie besonders gestört, dass Hella so etwas wie seine Cousine war. Hagis’ Adoption war in der Familie nie ein Geheimnis gewesen. Sie hatten Spaß. Es war schön mit Hella. Und lange Zeit war das alles gewesen, was zählte.
    Beide hatten sie versucht, schnell wieder zu vergessen, was wie ein schlechtes Omen am Tag ihrer ersten Begegnung passiert war. Und auch das Gerede im Dorf hatte Vahlen nie ernstgenommen – über Hellas Mutter, die Richard von Nesselhahn betrogen habe, und über seinen Vater, der in Martha verliebt gewesen sei. Er hatte nicht einmal etwas dabei gefunden, Hagis von seiner Beziehung zu Marthas Tochter zu erzählen. Schon immer hatte er seinem Vater viel anvertraut, vielleicht, weil er hoffte, Hagis würde ihm etwas anvertrauen. Vielleicht wollte er ihn auch nur verletzen, denn Vahlen hielt seine eigenen Gefühle für echter und intensiver als alles, was Hagis noch zu empfinden vermochte.
    Vahlen und seine Brüder hatten nach dem frühen Tod ihrer Mutter die letzten Schuljahre beim Vater in Chicago verbracht. Hagis war inzwischen ein berühmter Architekt, zu dem sich viele Frauen hingezogen fühlten. Und schon damals hatte Vahlen gespürt, dass die zahlreichen eleganten Damen, die in dem großen Haus am Lake Michigan ein- und ausgingen,

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