Schlechte Gesellschaft
dem Vater kaum mehr bedeuteten als seine Mutter Ilse.
Vahlen hatte ihn in einem Café in Frankfurt getroffen, wohin Hagis für einen Vortrag über die Statik von Wolkenkratzern eingeladen worden war. Hagis schien zunächst überrascht zu sein und dann belustigt über Vahlens Verbindung mit Marthas jüngster Tochter.
»Sie war ja nicht meine richtige Tante«, sagte er mit seinem schiefen Grinsen, wie immer, als ginge es nur um ihn.
Vahlen wusste nicht, was er erwartet hatte. Aber das Lachen seines Vaters empfand er als schäbig.
Ob es etwas Ernstes sei, wollte Hagis von seinem Sohn noch wissen. »Wohl eher nicht«, hatte Vahlen geantwortet. Dabei teilte er sich damals bereits eine Wohnung mit Hella.
Er erzählte ihr nie von dem Treffen. Er wusste auch gar nicht, was genau er hätte sagen sollen. Dass er nach Hagisâ unnötigem Beharren auf der Tatsache, dass er mit Martha nicht blutsverwandt war, fürchtete, sein Vater könne tatsächlich ein Verhältnis mit Hellas Mutter gehabt haben? Dass zum ersten Mal Angst in ihm aufgekommen war, ein Zweifel, oder war es die Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben?
Seine Mutter hatte er nie gefragt, wie viel Wahrheit in den alten Geschichten steckte. Damals kannte er Hella noch nicht. Und vielleicht hätte Ilse auch gar nicht gewusst, ob Hagis mit Martha eine Affäre gehabt hatte. Nie hatte sie schlecht über ihren ersten Mann gesprochen, obwohl er sie mit den Kindern in Sehlscheid alleingelassen hatte. Hagis habe immer getan, was er wollte, mehr sagte Ilse nicht über ihn. Vielleicht, weil sie selbst im Dorf als untreu galt, denn sie hatte noch vor Kriegsende ein zweites Mal geheiratet. Aber vielleicht schwieg sie auch nur deshalb, weil alle anderen redeten.
Als Hella ihm eines Tages sagte, dass sie schwanger war, schien es Vahlen, als habe sie ihn in eine Falle gelockt. Er brüllte sie an. Er hasste sie dafür, dass sie so dumm gewesen war, die Pille abzusetzen. Eine Freundin habe ihr dazu geraten, eine Pause zu machen von den starken Hormonen, hatte sie gesagt. Das sei so üblich. Dann solle sie die Freundin doch gleich nach der Adresse fragen, wo sie das Kind wieder loswerden könne, hatte Vahlen entgegnet. Hella bestand darauf, das Baby zu behalten. Sie wollte in jedem Fall Kinder haben. Am liebsten mehrere. Warum eigentlich nicht? Ja, warum eigentlich nicht.
Nie würde er vergessen, wie Hella in seinen Armen gelegen hatte, weinend, noch immer blutend. Sie hatte das Kind verloren, das in ihrem Kopf gerade erst zu existieren begonnen hatte. Sie verstand es nicht, wollte es nicht verstehen, fragte immer wieder, warum, als müsste es eine Ursache geben, einen Schuldigen für ihren Schmerz. Vahlen sah sie an und fühlte sich schuldig.
Er konnte nicht aussprechen, was er dachte. Der Arzt hatte jaschon alles gesagt. Sie sollten es noch einmal versuchen, beim ersten Mal würde eine Fehlgeburt »noch nichts heiÃen«. Was würde sie beim zweiten oder beim dritten Mal heiÃen, hatte Vahlen sich gefragt. Aber der Arzt redete immer weiter, ein junger Mann, mit langen, unfrisierten Haaren, ein ahnungsloser Trottel, wie Vahlen selbst. Wahrscheinlich habe sie das Baby eben nicht wirklich gewollt, hatte der Mann gesagt. Hella war auÃer sich gewesen.
Als dann doch noch ein Kind kommen sollte, schien plötzlich wieder alles möglich. Für Hella war ihr runder Bauch wie ein Wunder. Und auch Vahlen, der damals inmitten der Arbeit an Westerwald steckte, hatte sich wirklich gefreut.
SchlieÃlich lag das kleine Mädchen in ihren Armen und schaute sie mit groÃen Augen an, die kaum mehr als Licht und Schatten wahrnahmen. Hella wirkte so vollständig erfüllt von der Existenz dieses Kindes, das die meiste Zeit schlief oder schrie. Es war, als würde sie ihn gar nicht bemerken, den Defekt, die winzige Abweichung vom Vorgesehenen.
Bei Vahlen löste Judiths Anblick vor allem Scham aus. Die betroffenen Gesichter der Krankenschwestern, die ausweichenden Antworten der Ãrzte auf seine Fragen, das Entsetzen der Freunde, wenn sie das Baby zum ersten Mal sahen â wieder fühlte Vahlen sich schuldig. Für ihn konnte Judiths Behinderung nichts anderes als ein Symptom sein â ein deutliches Zeichen für das, was er in Gedanken mit wachsender Bestimmtheit »den Fehler« nannte.
Wann wurde aus wenigen Zellen ein Arm, ein Unterarm, eine Hand? Wann bildeten sich die Finger,
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