Schlechte Gesellschaft
sein Name geworden. Wolf rief nach ihm, über den ganzen Platz hinweg â ein Rufen wie eine Anklage. Hermann überkam das Gefühl, dem Alten etwas schuldig zu sein. Nur, weil sie sich jahrelang auf der DorfstraÃe zugenickt hatten, ohne je auch nur ein Wort miteinander zu wechseln?
Das Rufen begann von neuem: »Ich will Vahlen sprechen. Ich gehe nicht, ohne Vahlen gesprochen zu haben!«
Jetzt klang Wolfs Anliegen wie ein letzter Wunsch, den man niemandem verweigern durfte. Vahlen trat zum Fenster und blickte auf den Platz. Kehl, der dicke Brink und zwei der Moor-Jungen näherten sich der Treppe. Sie hielten den Juden wie ein Beutetier an Händen und FüÃen. Er warf sich hin und her. Sein Rücken schleifte am Boden. Die Kleider an seinem Leib â solange Hermann ihn kannte, die gleichen dunklen, unförmigen Lumpen â waren voller StraÃenstaub. Kehls Hunde sprangen aus sicherer Distanz wiederholt auf ihn zu, als müssten sie den Alten in Schach halten. Die Kinder, Kehls Truppe und einige Kleinere, die gerne dazugehört hätten, liefen lachend und mit Steinchen werfend hinter den Männern her. Am Eingang des Kolonialwarenladens griffen Hagisâ Söhne in die Rockfalten ihrer Mutter. Aus groÃen Augen beobachteten sie die Szene.
Hermann öffnete das Fenster, pfiff einmal kurz mit den Fingern und machte Kehl ein Zeichen, den Mann in die Parteistube zu bringen.
»Die wollen mich wegbringen, Vahlen.« Wolf stand vor dem Schreibtisch und rang nach Luft. Er begann an seinem Mantel herum zu zupfen, als wolle er ihn herrichten.
»Du hättest dich melden müssen. Es war angeschlagen. Alle Bewohner jüdischer Rasse hatten sich zu melden. In Koblenz wird man weiter sehen.«
Wolfs Augen blitzten auf. »Schick die Männer raus, ich habe dir was zu sagen.«
»Du hast gar nichts mehr zu sagen. Man wird sich in Koblenz um dich kümmern.«
»Schick sie raus. Es ist in deinem Interesse.«
Hermann sah den Alten an. Dünn war er geworden, ungepflegt, seit er den Wagen verloren hatte. Wie alt mochte er sein? Wolf hatte nie eine Familie gehabt, kein Zuhause, nur seinen Handel in dem Karren, der ihm als Bett und Warenlager diente. Als sie noch Kinder gewesen waren, war Hermann mit seinem Bruder einmal hineingekrochen. Während Wolf im Haus mit der GroÃmutter den Preis für einen Topf aushandelte, hatten sie seine Sachen durchwühlt. Der Jude hatte Uhren in seinem Wagen, Ketten, kleine Glasbehälter mit Pulvern und Flüssigkeiten. Unter einem Tuch fanden sie einen schweren, metallenen Gegenstand mit feinen Rädchen und einem Glasauge, den Hermann erst später als Mikroskop benennen konnte. Rudolf hatte an den Knöpfen herumgedreht und in das Rohr geblasen, bis sich plötzlich die Tür des Wagens öffnete und Wolf seinen Kopf hineinsteckte. Als er sie sah, stieà er einen Schrei aus, der dem von heute ganz ähnlich war. Er zerrte Rudolf am Ohr aus dem Wagen. Hermann stolperte hinterher, und von diesem Tag an war er dem Juden immer mit respektvollem Abstand begegnet.
Hermann hatte nie etwas bei Wolf gekauft. In der Gastwirtschaft war er der erste, der gesagt hatte, man müsse Kehls Kolonialladen vor der Konkurrenz des Juden schützen. Und als der Boykott offiziell ausgerufen wurde, lieà er Kehl und seine Jungen mit weiÃer Farbe »Kauft nicht bei dem Juden« auf Wolfs Wagen malen. Hermann war es auch, der veranlasst hatte, am Ortseingang das Schild mit der Aufschrift, »Juden sind in Sehlscheid unerwünscht« anzubringen. Der Arzt und der Viehhändler aus Niederbieber waren längst fortgegangen. Niemanden interessierte es, wohin. Die Synagoge in Arlich war, wie in den meisten Städten, im vergangenen Herbst abgebrannt worden. Warum der Alte noch da war, wo er ohnehin nirgends hingehörte, konnte Hermann sich nicht erklären.
Wolf, aber auch Kehl und die beiden Moor-Söhne, sahen den Parteivorsitzenden erwartungsvoll an. SchlieÃlich machte Hermann eine Kopfbewegung in Richtung der Tür, und die Männer verlieÃen den Raum.
»Hermann, du kennst mich. Ich habe nichts gemacht. Ich habe ja nicht einmal mehr verkauft«, begann Wolf.
»Du bist Jude. Gesetz ist Gesetz. Ist das alles, was du sagen wolltest? Ich habe zu tun.«
»Ich kenne noch einen in Sehlscheid, der sich nicht gemeldet hat.«
»Ach, ja?« Hermann verstand nicht, was Wolf vorhatte. Wollte er
Weitere Kostenlose Bücher