Schlechte Gesellschaft
verändert. Sein Blick traf den ihren. Starr und hasserfüllt sah er aus. Und er hielt etwas GroÃes, Langes in den Händen, das Martha nicht gleich erkennen konnte. Aber dann begriff sie, dass es ein Jagdgewehr war. Ein schweres, hölzernes Gerät, wie es in Sehlscheid jeder Bauernsohn besaÃ. Hagis hatte sie damit noch nie gesehen. Entsetzen ergriff sie. Der Lauf des Gewehrs war auf sie gerichtet â nein, auf Nesselhahn.
Inzwischen musste auch Nesselhahn Hagis gesehen haben, denn er blieb in der Drehung stehen. Die Musik des Orchesters verstummte. Durch den Saal ging ein Raunen. Einige der Paare standenverwirrt herum, andere hatten sich bereits von der Tanzfläche geflüchtet.
»Hagis«, rief Martha. Sie machte sich aus Nesselhahns Umarmung los und drehte sich zu ihrem Neffen. Sofort spürte sie die Hand ihres Mannes von neuem auf ihrer Schulter.
»Mach keinen Fehler, Junge«, rief Nesselhahn.
»Bist du verrückt geworden«, schrie jetzt auch Kläre.
Hagis rührte sich nicht. Mit schiefgelegtem Kopf, das Gewehr auf der Schulter in ihre Richtung zielend, schien er selbst nicht mehr weiter zu wissen.
Einen Moment lang geschah nichts. Dann begannen die Gäste sich untereinander Zeichen zu geben und zu flüstern. Man hörte Nesselhahns Trauzeugen Gues einen Witz machen. Hagis wurde sichtlich nervös. Martha sah, wie Hermann sich von hinten an ihn heranschlich. Einer der Männer am Ausschank stieà eine Flasche um, und Hagis riss das Gewehr ruckartig herum. Sofort wollte er es wieder auf Nesselhahn richten, aber da lief Hermann von der Seite mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu, schlug ihm das Gewehr aus der Hand und gleich darauf die Faust gegen das Kinn. Hagisâ Gesicht drückte Erstaunen aus, als er mit einem Seufzer zusammensackte.
Martha wollte zu ihm laufen, wollte ihren Neffen anschreien, was er sich dabei gedacht hatte. Er ist ja noch ein Kind, hätte sie am liebsten gerufen. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, ihn einen dummen Jungen schimpfen, ihn beruhigen, ihn küssen, wie sie ihn früher geküsst hatte, als sie beide noch Kinder waren. Aber Nesselhahn hielt seine Braut mit festem Griff und drehte sie zu sich herum. Sein Gesicht war hart.
»Alles in Ordnung?«
Martha nickte.
»Dann wollen wir uns nicht länger das schöne Fest verderben lassen.«
Hermanns Sohn Johann und der junge Bauer Gehrke führten Hagis aus dem Saal. Zu viel Alkohol, meinten die Frauen, die vonauÃerhalb gekommen waren, dabei ist er noch so jung. Wildgewordener Bauernrüpel, schimpften die Männer, die von Hagisâ Auftritt dennoch beeindruckt waren. Sichtlich freuten sie sich darauf, in der Stadt von ihrem Erlebnis zu erzählen.
Für die wenigen Bewohner von Sehlscheid aber, die zu Marthas Hochzeit eingeladen worden waren, für den Gastwirt selbst, für die Bauern Brink und Gehrke, für den Pastor Heller und den Oberförster Ranke hatte das Fest jede Leichtigkeit verloren. Denn wie so oft hatte Hagisâ Anblick sie an Marthas Unglück erinnert und an die vielfache Demütigung des Dorfes durch die amerikanische Siegermacht.
Als vor zehn Jahren der schwarze Soldat in Marthas Kammer eingestiegen war, hatte man in Sehlscheid erst begriffen, was der schlechte Frieden wirklich bedeutete. Der Täter wurde nie gefunden. Einige vermuteten sogar, es habe sich gar nicht um einen schwarzen Mann gehandelt. Die Besatzer hätten es nur so aussehen lassen, um die Kriegsverlierer zu erniedrigen. Und als die Frauen von der Hüh wegen des Vorfalls keine Ruhe gaben, steckten ihnen die fremden Soldaten eines Nachts auch noch den Hof in Brand.
Hagis teilte sich zu dieser Zeit die Schlafkammer mit Kläre Vahlens Enkel. Wie durch ein Wunder hatte nach dem bösen Feuer ausgerechnet das fremde Hungermaul in Kläres Armen wieder zu husten begonnen, während sein Ziehbruder, der kleine Heinrich Vahlen, im Rauch erstickt war.
Die Witwen weinten tagelang um Heinrich, obwohl er als Unglückskind galt. Der Pastor hatte ihn als »infans spurius« ins Kirchenbuch eingetragen, als unehelich geboren und elternlos. Er hatte weder sprechen noch laufen gelernt. Trotzdem ging es in aller Augen zu weit, dass die Amerikaner sich nun auch noch an Haus und Hof und wehrlosen Kindern vergingen. Im Gasthaus wurden die Stimmen laut, die einen Gegenschlag forderten. Einige der Bäuerinnen wagten es, den bei ihnen untergebrachten Soldaten
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