Schlechte Gesellschaft
wieder, dieser mitleidige Blick. Seine Tochter wurde ihrer Mutter immer ähnlicher.
Jana hatte ihn mit Villa Westerwald bekannt gemacht. Sie hatte ihren Eltern die erste Staffel vor zwei Jahren zum Hochzeitstag geschenkt. »Was für Mama, die abends gerne die Beine hochlegt«, hatte sie gesagt. »Und was für Papa, denn es ist nach einer literarischen Vorlage gemacht.« Sie hatte mit den Augen gezwinkert. »Damit könnt ihr es euch mal wieder zusammen gemütlich machen.«
Ab der zweiten Staffel hatte Kittel sich alle Folgen alleine angesehen. Nicht, dass Sybille die Serie nicht gemocht hätte. Aber ihre ständigen Nachfragen, warum denn »die Tochter« nun dieses oder jenes getan habe, was »die Alte« denn geantwortet oder wen der Philosophische Gärtner zitiert habe, raubten ihm den letzten Nerv. Ständig musste er die DVD anhalten, damit sie auf Toilette gehen konnte.
Kittel liebte Villa Westerwald von Anfang an. Die Serie lieà ihn das eigene Leben, die eigenen Sorgen, aber nie den eigenen Anspruch auf Glück vergessen. Schon lange träumte er davon, noch einmal alle Folgen ganz in Ruhe und an einem Stück zu sehen.
Als der Professor kurz darauf seinen Wagen vor dem Institut parkte, war es bereits dunkel. Während er auf dem Weg durch das Gebäude eine feuersichere Tür nach der anderen öffnete und hinter sich wieder schloss, dachte Kittel, dass er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Verwerfliches tat.
Im Aufenthaltsraum zog er den Karton aus dem Regal undklappte den Deckel auf. Kreuz und quer bekritzelte Blätter flogen ihm entgegen. Es sah eher nach Wielands Handschrift aus als nach der des Romanciers. Aber dann stieà er tatsächlich auf Notizbücher, auf Schuhkartons mit Fotos und Originaldokumenten, schlieÃlich in einer Mappe ein Stapel engbeschriebener Seiten â Peter Vahlens Manuskript.
Kittel drehte sich um. Die Tür des Aufenthaltsraums war geschlossen. Aber er meinte, im Flur etwas gehört zu haben. Wenn nur der Dekan nicht wieder über die Gänge schlich. Im Zwischenstock war alles still. Den Karton vor sich hertragend ging Kittel an den Kaffeeautomaten und schwarzen Brettern der Studenten vorbei in Richtung seines Büros. Er glaubte, es endlich geschafft zu haben.
Der Konstruktionsfehler (September 1976)
Vahlen zog den Schlüssel ab. Mit dem Motor gingen auch die Scheinwerfer aus, die Musik verstummte. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Gedanken zu sammeln. Das Bild der knienden Kuh, die geschundenen Leiber auf der WaldstraÃe gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er wehrte sich gegen die Vorstellung, der Unfall hätte irgendeine Bedeutung. Und doch lieà sie ihn nicht los. Wieder einmal meinte er, dass etwas passieren müsste, jetzt und nicht nur mit ihm.
Der Dioxinunfall von Seveso, die Toten von Tangschan, der Sturm auf die Flugzeugentführer von Entebbe â täglich lieferten die Nachrichten den Beweis für die Störanfälligkeit des Systems. Ãberall verschwand das Leben, wie man es früher gekannt hatte, ganze Landstriche wurden reformiert, zusammengelegt und vergiftet. Aber kaum jemand wehrte sich noch.
Es kam Vahlen vor wie ein geerbter Kummer, ein alter Fluch, der unerwartet hochkocht, zu einem späteren Zeitpunkt, an einem anderen Ort. Er wusste nicht, ob der Fehler in seiner Arbeit lag, ob erdas Land betraf, die Welt oder Hella und ihn allein. Manchmal schien es, als hätten sie kein Recht auf ein friedliches Glück. Es war nur ein Gefühl, sagte er sich. Aber alle seine Versuche, es zu vergessen, erschienen ihm wie ein Spiel, mit dem er sich selbst überlisten wollte.
Lange hatte er geglaubt, die Stadt wäre an allem schuld. Menschen, umgeben von Beton, die jeden Tag schneller, produktiver, kompromissbereiter sein mussten. Vahlen wollte sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen. Aber neben den Demonstrationen und vielen Festen, die mit einem solchen Engagement zusammenhingen, fand er kaum noch die Kraft zum Schreiben. Dann war der Brief des Notars gekommen.
Die Erbschaft im Aulbachtal war keine gute Nachricht gewesen. Hellas Schmerz, ihre Verlorenheit nach dem Selbstmord ihrer Mutter war ihnen lange Zeit unabänderlich erschienen. Hellas Vater, der groÃe Verleger Richard von Nesselhahn, der die Familie wie die Geschäfte aus der Ferne geleitet hatte, spukte â obwohl schon vor Jahren gestorben â wie ein Geist um sie herum. Ursprünglich
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