Schlechte Gesellschaft
einer, zwei und schlieÃlich â auf wundersame Weise immer genau â fünf? Und warum wuchs ihrem Baby, einem von Tausenden, nur die rechte Hand, und statt der linken ein schlaffer, in zwei fingerähnlichen Fortsätzen endender Stumpf?
Von einer Kollegin in Amerika lieà Hella sich Bücher über Entwicklungspsychologie und Krankengymnastik schicken, die sie gewissenhaft las. Es gebe Kinder, die mit den FüÃen das Schreiben erlernen, erzählte sie ihm. Mit der Feststellung, dass sich Judithohne eine Prothese natürlicher entwickeln würde, schien das Thema ihrer Behinderung für Hella erledigt. Vahlen dagegen musste seinen Drang unterdrücken, einfach wegzulaufen. Er fürchtete, dem Kind, der Frau und dem Leben, das da so zwingend vor ihm lag, nicht gewachsen zu sein.
Aber auch diese Angst hatte bald nachgelassen, auch diese Sicherheit, wo der Fehler zu suchen sei, wich einer neuen Unsicherheit. Der Alptraum von Judiths fehlender Hand war Normalität geworden. Der Erfolg seines Romans hatte geholfen und Hellas Stärke, mit der sie ihre Praxis, das Kind, die täglichen Abläufe im Blick behielt. Trotzdem war Vahlens Bemühen, aus allem das Beste zu machen, war sein Optimismus, über den Hella sich gerne lustig machte, nichts anderes als der Versuch gewesen, seine Unruhe zu übergehen. Er hatte nie ein vollkommenes Leben gewollt, aber er wünschte es sich doch erfüllt. Und er glaubte nicht akzeptieren zu können, dass es ihm oft nur künstlich und hohl erschien.
Vahlen stieg aus dem Wagen und lieà die Tür sanft zufallen. Wahrscheinlich würde Hella ohnehin auf ihn warten. Aber wenigstens die Kleine durfte er nicht wecken.
Eine Weile lang blieb er stehen, lauschte und lieà die Dunkelheit auf sich wirken, bevor er sich auf den Weg zum Treppenaufgang machte. Die Lampe an der Haustür bot kaum mehr als einen Orientierungspunkt. Einen Moment lang meinte er, unter der Rhododendronhecke etwas liegen zu sehen, einen gedrungenen Körper. Der Zweig eines Holunderbuschs schlug ihm entgegen und bespritzte sein Gesicht mit Regenwasser. Es roch nach Moos und Pilzen. Morgen wollte er in den Wald gehen, um Maronen zu suchen. Er stellte sich an das Rosenbeet und pinkelte auf die vom Regen gesättigte Erde. Dann war es wieder still um das Haus.
In der Eingangshalle umhüllte ihn der vertraute Geruch nach verkohltem Holz und feuchter Asche. Der Hund hob nur kurz den Kopf. Früher wäre er angesprungen gekommen, dachte Vahlen. Vielleicht war das Tier müde, wie alle anderen auch.
Er streifte sich die Schuhe ab und ging auf Socken die Treppehinauf. Er machte kein Licht, aber er hatte die Gartenlampe vergessen. Im Schimmer des beleuchteten Fensters sah er Hellas Körper, der sich beim Atmen beinahe unmerklich bewegte. Es roch nach Schlaf und nach dem süÃlichen Duft des Kindes. Er hörte die Kleine in ihrem Bett leise schnarchen. Ihr Ãrmchen mit der perfekten kleinen Hand hatte sie über den Kopf gestreckt, als greife sie nach etwas.
Vielleicht war alles gut so, wie es war. Judith »fehlte nichts«, wie Hella zu sagen pflegte. Sie entwickelte sich normal, das bestätigten auch die Ãrzte. Seine Fragen und Zweifel hatten Vahlen bisher keinen Schritt weiter gebracht.
Vahlen nahm die kleine Puppe, die Judith so gerne mochte, vom FuÃende des Betts und schob sie zu ihrem Kopf. Als er sich neben Hella auf das Bett legte, dachte er, dass er noch nach der anderen Frau riechen musste, und er hoffte, der Geruch von Alkohol und Zigaretten wäre stärker.
Der letzte Jude (Februar 1938)
Vom Marktplatz drang ein greller Schrei herauf. Ein Geräusch wie von einer Katze, die unter einen Wagen geraten ist, dachte Hermann, obwohl er wusste, dass es von einem Menschen stammte. Denn vor knapp einer Stunde war die Frist vergangen, in der Jud Wolf, der letzte in Sehlscheid lebende Jude, sich hätte freiwillig melden müssen. Hermann hatte veranlasst, dass er noch am selben Morgen daran erinnert würde.
Der Parteivorsitzende unterdrückte den Impuls, an sein Fenster zu treten, um das Geschehen auf dem Vorplatz zu verfolgen. Dem Lärm nach zu urteilen, hatte Wolf nicht vor, sich friedlich abführen zu lassen. Aber in Koblenz würde man sich seines Falls annehmen. Und, solange es noch heute geschah, müsste Hermann sich nicht um den Papierkram kümmern.
»Vahlen!«
Hermann erstarrte. Aus dem ungeformten Geschrei war
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