Schlechte Gesellschaft
man sich nur auf die Familie. Was hatte überhaupt einen Sinn im Leben, wenn nicht die eigenen Kinder und Kindeskinder? Dies war die einzige Weisheit, in deren Besitz sie sich fühlte. Nach allem, was sie erlebt hatte, nach allen Verlusten und Niederlagen. Und jetzt fragte sie sich, wie sie es verpasst haben konnte, ihrem einzigen Sohn diese Wahrheit zu vermitteln?
Bushaltestelle (Juni 2007)
Hinter dem Waldrand ging die Sonne unter. Alexia wartete bereits eine ganze Weile. Sie saà auf der Bank des Bushäuschens, die Beine ausgestreckt, die Spitzen ihrer Reitstiefel aneinandergedrückt.
Von Ferne näherte sich Motorenlärm. Ein Junge, er mochte nicht viel älter sein als sie, brachte sein Mofa direkt vor ihr zum Stehen.
»Willst du mitfahren?«, fragte er. »In die Richtung kommt nichts mehr.«
Alexia sah ihn kaum an, schüttelte aber den Kopf. Als der Junge schon eine Weile fort war, kam ein neues Geräusch, leiser, regelmäÃiger die kurvige StraÃe herauf. Der Bus hielt auf der gegenüberliegenden StraÃenseite. Ein Mann stieg aus, kräftig und grob. Im schwächer werdenden Licht war sein Gesicht kaum zu erkennen. Er blieb an der Haltestelle stehen, nachdem der Bus schon wieder verschwunden war, als wartete er darauf, dass ihn jemand abholte. Dabei blickte er unverhohlen zu Alexia, dann die StraÃe herunter. SchlieÃlich überquerte er pfeifend die Fahrbahn.
»Soll ich dir mal was zeigen?«, fragte er mit gepresster Stimme. Breitbeinig stellte er sich vor sie hin.
Alexia schüttelte den Kopf.
»Komm schon, sei keine Spielverderberin. Ich hab was für dich.« Der Mann bückte sich zu ihr herunter. Seine Worte schienen ihn zu erregen. »Ich stecke meinen groÃen Schwanz in deinen Mund. Wird dir gefallen.«
Alexia begann, zuerst nur unmerklich, dann immer heftiger vor und zurück zu schaukeln und dabei ohne erkennbare Melodie zu summen. Der Mann stutzte, schien abzuwarten. Aus der Ferne hörte man wieder ein Auto näherkommen.
»Durchgeknallt«, sagte der Mann laut, wie um sich selbst zu überzeugen. »ScheiÃnutte.«
Der heranrauschende Wagen erreichte die Bushaltestelle, verlangsamte die Fahrt und beschleunigte erst in der Kurve. Der Mann wandte sich wieder der StraÃe zu. Zunächst zögernd, dann immerschneller lief er auf dem Randstreifen entlang in Richtung der Ortschaft. Als das Auto nicht mehr zu hören war, drehte er sich noch einmal nach Alexia um. SchlieÃlich verschwand er hinter der nächsten Biegung.
Im Bushäuschen flackerte die Neonbeleuchtung mehrmals kurz auf, bevor sie anging, und im selben Augenblick schien es drauÃen dunkel geworden zu sein. Alexia öffnete ihre Tasche und holte ein Klappmesser heraus. Sie schob den Ãrmel ihres Pullovers hoch. Dann begann sie die Schnitte zu setzen, immer einen neuen zwischen zwei ältere, rötlich entzündete oder bereits hellvernarbte. An den Einschnittlinien bildeten sich blutige kleine Rosen.
Auf dem Boden I (August 1940)
Nesselhahn hörte, wie die Kinder unten die Eingangshalle erreichten. Er war sicher, Martha wusste, dass er da war. Die Vorstellung, auch sie würde auf der anderen Seite der Tür den Geräuschen der Kinder lauschen, erregte ihn. Langsam lieà er sich am Treppenverschlag in die Hocke rutschen. Jetzt vernahm er schon die Rufe von Emilie und Karl im Garten. Sie mussten mit dem Hausmädchen, das die kleine Hella trug, zum Bach gelaufen sein, denn ihre Stimmen entfernten sich. Dann war es wieder ruhig.
Warm und rauh spürte Nesselhahn das Holz der Tür an seiner Wange. Vom Dachboden kam noch immer kein Laut. Für gewöhnlich, dass wusste er vom Hausmädchen, machte Martha tagsüber Dehnübungen, notierte Rezeptideen, kämmte sich das Haar, während die Kinder mit ihren Puppen und Autos spielten. An anderen Tagen starrte sie stundenlang aus dem Fenster, einer kleinen Luke, durch die gerade noch die Wipfel der Bäume zu sehen waren.
Blass sei sie geworden und schmal, sagte Lisa. Die Frau Martha sehe ja kaum mehr die Sonne. Nesselhahn hatte dem Mädchen mit Entlassung drohen müssen, damit es mit seinem Gemurre aufhörte.Streng hatte er es dabei angesehen. »Wissen Sie eigentlich, warum ich meine Frau einsperre?« Lisa hatte genickt.
Sie war dabei gewesen, als der Arzt gekommen war. Mit hochrotem Kopf war Doktor Werth hinterher aus Marthas Zimmer getreten. Lange hatte er sich in
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