Schlechte Gesellschaft
tatsächlich einen anderen Juden an ihn verraten? Und wer sollte das sein?
»Dein Neffe Hagis ist, wie ich gehört habe, wieder zu Besuch? Soll ja jetzt Architekt werden in London. Deine Schwester hat ihm das wohl ermöglicht? Sie hat eine gute Partie gemacht mit dem jungen von Nesselhahn. Das zahlt sich aus für die Familie.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Stell dich nicht dumm, Hermann. Ich bin ein alter Mann. Aber ich will nicht sterben. Denkst du, ich lasse mich einfach so abführen? Während dein Hagis hier in Ruhe ein und aus geht? Niemand hat vergessen, woher er kommt. Er täte besser dran, in London zu bleiben.«
»Hagis war ein Hungermaul. Keiner weiÃ, wo er herkommt.«
»Genauso ist es. Siehâ ihn dir doch mal genauer an, mein lieber Hermann. Bisher haben alle den Mund gehalten. Für die Amerikaner war es die einfachste Lösung, euch das Kind dazulassen. Er ist ja sogar getauft, dein Neffe. Aber wenn man in Koblenz erfährt, dass auf dem Friedhof in Wirklichkeit der kleine Heinrich Vahlen liegt und nicht das unbekannte Hungermaul, dann wird man sich seine lange Nase schon genauer ansehen.«
Hermann begann zu schwitzen. Warum hatte er selbst nie daran gedacht, dass Hagis ein Jude sein könnte? Er war nur erleichtert gewesen, als sein aufsässiger Neffe zum Studieren endlich fortgegangenwar. Wie hatte er nicht merken können, was ganz Sehlscheid sich hinter dem Rücken seiner Familie längst zuflüstern musste?
Er fuhr sich über die Stirn. Am liebsten hätte er alles geleugnet, hätte geschrien, dass Wolf lüge, dass es nicht wahr sei. Aber nichts erschien ihm nun naheliegender.
»Du erpresst mich, Wolf?«, fragte er.
»Alles, was ich will, ist, dass du mich gehen lässt.«
Lesezirkel (Juni 2007)
Im Hausflur konnte Gisela Wieland nicht gleich erkennen, wie schlecht ihr Sohn aussah. Sie freute sich, ihn dem Lesezirkel endlich präsentieren zu können. Andreas war ihr stärkstes Argument in den Gesprächen über die neuesten Bucherscheinungen. Und gerade vor Ortrud Giester, der Zahnarztgattin, die ausschlieÃlich lesen wollte, was auf der Bestsellerliste stand, brüstete sie sich gerne mit ihrem Sohn an der Universität.
Erst als er sich weigerte, den seltsamen Daunenmantel auszuziehen, bemerkte sie, dass mit Andreas etwas nicht stimmte. Er blickte sich im Eingang um, als fühlte er sich verfolgt.
»Ich wusste nicht, dass du Besuch hast«, sagte er. »Ich komme besser später wieder.«
»Ach, was.« Gisela packte ihn am Arm, um ihn festzuhalten, aber auch, um sich zu versichern, dass der Mantel tatsächlich aus dem weiblich-glänzenden Material gemacht war, das sie zu erkennen meinte. »Was ist mit dir los?«, fragte sie. »Hattest du einen Unfall? Wo ist mein Wagen?«
Andreas zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn ein bisschen weiter weg geparkt.«
Gisela schwankte zwischen dem Wunsch, ihren Sohn nun doch vor den Gästen zu verbergen, und der Gewissheit, dass die sichlängst fragen mussten, mit wem sie da so lange flüsterte. SchlieÃlich drängte sie Andreas in die Wohnstube.
»Mein Sohn«, sagte sie. »Entschuldigt. Er ist etwas müde.«
»Andreas, das freut uns aber, Sie endlich kennenzulernen. Ihre Mutter hat uns viel von Ihnen erzählt.« Ortrud Giester hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und streckte die Brust heraus. In ihrem kirschroten Blazer mit dem Gold- und Perlengehänge musste sie auf Andreas überkandidelt wirken. Monika Tengelmann, die als Buchhändlerin die wöchentlichen Treffen initiiert hatte, begann die Kuchenteller und Kaffeetassen hin- und herzurücken. Auch Renate, die Gisela noch am liebsten war, erschien ihr plötzlich albern, wie sie mit gerecktem Hals anfing, vom Wetter zu plappern.
Andreas blickte starr auf den Tisch. Die Tengelmann schenkte ihm Kaffee ein. Aber erst als er die Platte mit dem Nusskuchen entdeckte, schien er zu erwachen, griff, noch über den Arm der Buchhändlerin hinweg, ein groÃes Stück und stopfte es sich in den Mund. Kauend nickte er vor sich hin, während die Frauen auf ihn einredeten.
»Sagen Sie uns doch selbst, Herr Wieland, was Sie von dem neuen Pfaff-Roman halten. Ich nehme an, als Wissenschaftler interessiert Sie vor allem seine Darstellung der siebziger Jahre?«, begann die Tengelmann.
»Sie verzeihen, Herr Wieland«, fiel Ortrud ein. »Ich
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