Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
naiv. Stellvertretend für zahllose Untersuchungen, die solche Einflussnahmen belegt haben, zitiere ich eine Übersichtsstudie zur Einschätzung von schädlichen Nebenwirkungen bestimmter Blutdrucksenker. Die zur Blutdrucksenkung eingesetzten Calcium-Antagonisten waren in denVerdacht geraten, selbst Krankheiten auszulösen. DieVerfasser der Übersichtsstudie unterteilten die Autoren der untersuchten Studien in Befürworter des Medikaments, Neutrale und Kritiker. Dabei zeigte sich, dass 96Prozent der Befürworter des Medikaments finanzielle Bindungen zum Hersteller hatten. Die Redaktionen, bei denen die Autoren ihre Arbeiten veröffentlichten, wurden nur in 2Fällen über die finanzielleVerbindung derWissenschaftler informiert.
In den USA kann man per Gesetz Pharmafirmen dazu zwingen, ihre finanziellen Zuwendungen an Ärzte offenzulegen. Demnach zahlte die Firma Pfizer, welche unter anderem an Cholesterinsenkern gut verdient, im Jahr 2010 insgesamt 177Millionen US -Dollar an etwa 200 000Ärzte. Der Konzern GlaxoSmithKline, der unter anderem den Schweinegrippeimpfstoff Panderix herstellt, gab im Jahr 2009 Zuwendungen an 5331Ärzte mit 56,8Millionen Dollar an. Plus 28,5Millionen an medizinische Institutionen zwecks Durchführung von Studien. Merck & Co. investierte im Jahr 2010einen Betrag von über 20,4Millionen Dollar in 2088Ärzte. Doch wie stellt sich das Problem für Deutschland dar?
Mietmäuler
Die Frage, warum in deutschen Leitlinien die wissenschaftliche Erkenntnislage häufig keine Chance hat, habe ich dem arznei-telegram m 8 gestellt, dem medizinischen Fachblatt, das seit Jahren zeigt, wie man hochwertige, evidenzbasierte Bewertungen von T herapien unabhängig anbieten kann. Das arznei-telegramm kann man nur im Abonnement beziehen, allein darüber finanziert es sich und ist frei vonWerbung. Ich beziehe diese Zeitschrift schon lange, und meiner Erfahrung nach halten ihre Aussagen einer Überprüfung der Quellen stand. Das zeigte zum Beispiel die richtige Analyse zu den Gefahren des Medikaments Sibutramin, welches in den Lauterbach-Leitlinien angepriesen wurde. Mit Erlaubnis des Leiters zitiere ich seine Antwort vom 14.Oktober 2011 wörtlich:
» Sehr geehrter Herr Dr. Frank,
Sie beschreiben das Problem, dass die Umsetzung von gesicherten Erkenntnissen in der Medizin in die Praxis in einigen Bereichen viel zu lange dauert. Das mag auch daran liegen, dass zahlreiche Experten eher Meinungsbildner sprich Mietmäuler sind, die keine wissenschaftlichen Erkenntnisse verbreiten, sondernThesen, die dem Marketing von Firmen dienen, in deren Lohn und Brot sie stehen. Das ist zumindest in einigen Bereichen keine Übertreibung, sondern Realität.
Wir erfahren dies in solchen Situationen, in denen wir– selbstverständlich mit entsprechender Untermauerung durch die vorhandenen wissenschaftlichen Daten– Bewertungen veröffentlichen, die der jeweils aktuell verbreiteten Ansicht entgegenlaufen, beispielsweise wenn es um die Risiken bestimmter neuerer Kontrazeptiva ging, um die Risiken der sogenannten Hormonersatztherapie oder um die fraglicheWirksamkeit von Antidepressiva. Der Aufschrei mancher Fachgesellschaften, besser gesagt von einigen meinungsbildenden Ärzten, die Fachgesellschaften vertreten, ist dann groß und geht bis zur Diffamierung. Einige Jahre später ist die Diskussion dann allgemein angekommen und wird allmählich umgesetzt.
Mit den besten Grüßen aus Berlin
Wolfgang Becker-Brüser (Arzt und Apotheker)
Redaktion arznei-telegramm «
Das ist deutlich. In derTat ist der Begriff » Mietmaul « in der Pharmabranche gut bekannt, wenn es darum geht, Ärzte zu finden, die helfen, ein neues Medikament durchzusetzen oder den Umsatz etablierter Medikamente zu sichern. Mietmäuler sind in Deutschland ganz besonders wichtig.Während der skandinavisch- und englischsprachige Raum in der Pharmaszene als Evidence-Belt bezeichnet wird, weil man dort gute (oder gut manipulierte) Studien braucht, um Neues auf dem Markt durchsetzen zu können, nennt man den deutschsprachigen Raum Eminenz-Belt, da man hier nur die Eminenz, also den Chef überzeugen muss, und schon wird das Neue umgesetzt, und zwar kritiklos. In Südeuropa, im Pharmajargon Garlic-Belt, muss das Produkt lediglich neu sein, um für denVerkauf interessant zu werden.
Will man also in Deutschland ein neues Medikament durchsetzen, dann engagiert man eine führende Persönlichkeit aus dem universitären Umfeld, die die Meinung der entsprechenden
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