Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
fürWerbung und Marketing als für Forschung. Das muss man sich immer vor Augen halten. Und die Methoden, Einfluss zu nehmen, sind äußerst raffiniert und beginnen mit den Besuchen von Pharmareferenten in den ärztlichen Praxen und Krankenhäusern. Ich persönlich habe noch kein einziges Mal erlebt, dass Pharmavertreter in der Lage waren, einen Nachweis über den Nutzen ihrer Produkte vorzuweisen, der auch nur einer kleinen Überprüfung standgehalten hätte. Es waren Hochglanzprospekte mit nichtssagenden Kurven, die all jene vorgeführten Ungereimtheiten enthielten. In meiner Praxis haben Pharmavertreter deshalb Hausverbot.
Beliebt sind auch telefonisch durchgeführte » Anwenderstudien « . Alle 2Wochen erhalte ich in meiner Praxis einen Anruf mit der Bitte, an einer » wissenschaftlichen « Befragung teilzunehmen, honoriert mit 50Euro, versteht sich. Die » Ergebnisse « dieser Befragung werden dann in » Fachblättern « wie der Apothekenumschau oder einfach als Pressemeldungen in den Zeitungen abgedruckt, nach dem Motto » Krankheit X nimmt rasant zu, therapeutische Anstrengungen müssen verstärkt werden, es gibt aber wirkungsvolle Medikamente… «. Den armen Mitarbeitern der Callcenter, die sicher liebend gerne einen anderen Job machen würden, setze ich dann auseinander, dass wir es hier doch im Ansatz mit versuchter Korruption zu tun haben, und merke an ihrer Reaktion das Unbehagen.
Bürokratie und Budgets
In den 1970er Jahren machte der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt einen Sprung von 3,5 Prozent im Jahr 1970 auf 5,7Prozent im Jahr 1975 und weiter auf 8,4Prozent im Jahr 1980. Der nachfolgende Anstieg von 8,8Prozent 1985 auf 10,1Prozent im Jahre 1995 wird den Kosten durch dieWiedervereinigung zugerechnet. Seitdem stabilisiert sich der Anteil zwischen 10 und 11Prozent.
Ausgabenentwicklung im deutschen Gesundheitswesen
1970
1975
1980
1985
1995
2000
2005
2008
Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt in Prozent
3 , 5
5 , 7
8 , 4
8 , 8
10 , 1
10 , 3
10 , 7
10 , 5
Aus: Hartmut Reiners: Krank und pleite? Das deutsche Gesundheitssystem
Die großen Sprünge in den 70er Jahren haben jedoch andere Gründe. Sie sind auf einen enormen Anstieg der Ausgaben in den gesetzlichen Krankenkassen zurückzuführen. Damals wurde die Abrechnung von Einzelleistungen der Ärzte stark gefördert, und so konnte ein Kassenarzt jeden Handgriff, jeden Laborwert und jedes EKG einzeln der Krankenkasse in Rechnung stellen. Das war die Zeit, in der man als praktischer Arzt 6 Monate nach Beendigung des Studiums eine eigene Praxis eröffnete und 2 Jahre später seineVilla mit Hallenbad abbezahlt hatte. Es war die Zeit, als Chefärzte alle Einnahmen aus Privatbehandlungen in voller Höhe auf ihrem Konto verbuchten, obwohl sie Krankenhauspersonal und Räumlichkeiten dafür nutzten. Nicht selten führten Assistenzärzte, die vom Krankenhaus bezahlt wurden, die Privatstunden durch, und trotzdem bekam der Patient die Chefarztrechnung.Wer darüber hinaus die Erlaubnis hatte, als Chefarzt ambulante Kassenleistungen abzurechnen, wie zum Beispiel Pathologen, Radiologen oder vor allem Labormediziner, besaß die Lizenz zum Gelddrucken.
Damals gab es noch kein Chipkärtchen, welches beim Arzt eingelesen wird, und auch keine 10Euro Praxisgebühr. Es gab einen Kassenschein, den man beim ersten Besuch in einem Quartal in der Hausarztpraxis abgab und auf dem dann der Arzt die Leistungen vermerkte, die er der Krankenkasse in Rechnung stellte. Es war durchaus üblich, dass die Großmutter am Anfang eines Quartals mit den gesamten Scheinen der Großfamilie zum Doktor ging und sich ein » Kopfgeld « pro Schein auszahlen ließ. Die 5 oder 10 DM waren gut investiert. Denn selbst wenn die Familienmitglieder gar nicht zum Arzt gingen, konnte man auf dem Schein eine Untersuchung nach der anderen » virtuell « durchführen, keiner überprüfte dies. Aus den gleichen Gründen wurden gesunde Patienten regelmäßig am Ende des Quartals aufgerufen, dennoch ihren Krankenschein abzugeben.
So haben wir Ärzte das System gemolken, und unsere Standesorganisationen wie die KassenärztlichenVereinigungen konnten der Profitsucht nicht Einhalt gebieten.Warum auch, je mehr Geld die Ärzte verdienten, desto mehr Geld floss auch auf deren Konten. Es wurde verschrieben und untersucht, was das Zeug hielt. Es war auch das Eldorado für Pharmareferenten, die durch vielfältige Gefälligkeiten denVerschreibungswahn weiter
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