Schleichendes Gift
medizinische Dinge beurteilen.
»Wie viel Gewicht? Sein ganzes Körpergewicht?«
Die Studenten warfen sich verstohlene Blicke zu. »Sobald er mit einem Gehbock gehen kann«, äußerte ein anderer.
»Wenn er mit einem Gehbock gehen, das Bein anheben und Treppen steigen kann«, meldete sich ein dritter.
Tony spürte, dass sein Kopf bis an die Grenze der Belastbarkeit strapaziert wurde. »Frau Doktor«, ging er energisch dazwischen. Als er ihre Aufmerksamkeit hatte, sprach er klar und deutlich. »Das war keine überflüssige Frage. Ich muss hier raus. Alle wichtigen Dinge in meinem Leben können nicht von einem Krankenhausbett aus erledigt werden.«
Jetzt lächelte Dr. Chakrabarti nicht mehr. Tony dachte, so müsse sich wohl eine Maus fühlen, wenn sie sich Auge in Auge mit einem Raubvogel wiederfindet. Das einzig Gute daran war, dass einem klar war, es würde nicht lang dauern. »Das haben Sie mit der großen Mehrzahl meiner Patienten gemeinsam, Dr. Hill«, sagte sie.
Seine blauen Augen funkelten, weil er sich sehr anstrengte, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen. »Das weiß ich sehr wohl. Aber anders als bei den meisten übrigen Patienten kann meine Arbeit niemand anders machen. Und das ist keine Arroganz. Es ist einfach so. Und um die meisten Dinge zu tun, die wichtig sind, brauche ich nicht unbedingt zwei funktionierende Beine. Was wirklich funktionieren muss, ist mein Kopf, und der funktioniert hier drin nicht gut.«
Sie starrten einander an. Keiner der Studenten rührte sich. Sie wagten kaum zu atmen. »Ich habe Verständnis für Ihre Lage, Dr. Hill. Und ich verstehe, dass Sie ein Gefühl des Scheiterns verspüren.«
»Ein Gefühl des Scheiterns?« Tony war wirklich verblüfft.
»Es war doch schließlich einer Ihrer Patienten, der Sie hierhergebracht hat.«
Er brach in schallendes Gelächter aus. »Ach du lieber Gott, nein. Es war keiner meiner Patienten. Ich habe Lloyd Allen nicht behandelt. Es geht nicht um Schuldgefühle, sondern mir liegt daran, meinen Patienten das zu geben, was sie brauchen. Genau wie Sie, Dr. Chakrabarti.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, unwiderstehlich und ansteckend.
Ihre Mundwinkel zuckten. »In diesem Fall würde ich sagen, es ist Ihre Entscheidung, Dr. Hill. Wir könnten es vielleicht mit einer Stützschiene statt eines Gipses versuchen.« Sie sah kritisch auf seine Schultern hinab. »Schade, dass Sie nicht mehr Kraft im Oberkörper haben, aber wir können es mit Krücken probieren. Unterm Strich heißt das, Sie müssen gehen können, müssen Ihre Physiotherapie machen und ohne die Morphiuminfusion auskommen. Haben Sie zu Hause jemanden, der sich um Sie kümmert?«
Er sah zur Seite. »Eine Freundin wohnt im Haus. Sie wird mir helfen.«
Die Chirurgin nickte. »Ich werde Ihnen nichts vormachen, die Reha wird nicht leicht sein. Harte Arbeit und viele Schmerzen. Aber wenn Sie entschlossen sind, hier rauszukommen, könnten wir Ihr Bett Anfang bis Mitte nächster Woche freimachen.«
»Anfang bis Mitte nächster Woche?« Er konnte seine Bestürzung nicht verbergen.
Dr. Chakrabarti schüttelte den Kopf und lachte leise vor sich hin. »Jemand hat Ihre Kniescheibe mit einer Feuerwehraxt zerhackt, Dr. Hill. Seien Sie doch einfach dankbar, dass Sie in einer Stadt wohnen, die ein Krankenhaus mit einem orthopädischen Spitzenzentrum hat. An manchen anderen Orten würden Sie daliegen und sich fragen, ob Sie jemals wieder richtig auf die Beine kommen werden.« Sie verabschiedete sich mit einem Nicken. »Einer von denen hier wird morgen dabei sein, wenn die Drainage rauskommt und die Schiene abgenommen wird. Dann werden wir sehen, wie wir weitermachen.«
Sie trat von seinem Bett zurück, und ihr Gefolge drängte sich dicht hinter ihr her. Einer flitzte vor ihr zur Tür, öffnete sie, und Carol Jordans erhobene Faust hätte fast die Chirurgin getroffen. Erschrocken wich Dr. Chakrabarti leicht zurück.
»Entschuldigung«, sagte Carol, sah auf ihre Hand hinunter und lächelte verlegen. »Ich wollte gerade anklopfen.« Sie trat zur Seite, um die Mediziner vorbeizulassen, und zog mit Blick auf Tony die Augenbrauen hoch, während sie vollbepackt eintrat. »Das nahm sich ja aus wie eine mittelalterliche königliche Rundreise mit Gefolge.«
»So ähnlich. Das war Dr. Chakrabarti mit ihren Sklaven. Sie ist für mein Knie verantwortlich.«
»Was gibt’s Neues?«, fragte Carol, stellte verschiedene Plastiktüten ab und ließ Tonys Laptop vorsichtig auf den Tisch
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