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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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zumute, aber der Tag ließ sich auf diese Weise einteilen. Er wünschte fast, seine Mutter wäre geblieben. Sie gab ihm wenigstens das Gefühl, gegen etwas angehen zu können. Tony schüttelte bei dem Gedanken entsetzt den Kopf. Wenn die Gegenwart seiner Mutter die Antwort war, dann stellte er sich die falsche Frage. Es gab durchaus in der Geschichte ihrer Beziehung Aspekte, mit denen er sich hätte befassen und auseinandersetzen sollen. Aber dies war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit. Er war nicht sicher, wo oder wann möglicherweise der passende Moment für eine so schmerzliche Beschäftigung sein würde, wusste aber, dass es nicht hier und jetzt war.
    Trotzdem konnte er nicht ewig warten. Carol hatte sie jetzt kennengelernt und würde Fragen stellen. Er konnte Carol nicht einfach übergehen. Sie hatte Besseres von ihm verdient. Das Problem war, womit er anfangen sollte. Seine Kindheitserinnerungen ließen sich nicht fortlaufend erzählen. Sie waren eine unzusammenhängende Serie von Vorfällen, lose aneinandergereiht wie dunkle Perlen auf einer abgenutzten Kette. Er hatte nicht nur schlechte Erinnerungen. Aber in den guten kam seine Mutter nicht vor. Er wusste, dass er nicht der einzige Mensch mit solchen Erfahrungen war. Schließlich hatte er viele solcher Patienten behandelt. Es war nur ein weiterer Aspekt seiner Geschichte, den er mit den Verrückten gemeinsam hatte.
    Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als schlüge er nach einer Fliege, nahm die Fernbedienung des Fernsehers und begann, die wenigen Kanäle durchzugehen. Aber er fand nichts, was ihn interessierte, und ein Klopfen an der Tür ersparte ihm die Entscheidung.
    Die Person vor der Tür wartete nicht, bis er sie hereinbat. Die Frau, die hereinmarschiert kam, sah aus wie ein in die Breite gegangener Raubvogel. Ihr glänzendes, welliges braunes Haar war kurz geschnitten und aus der Stirn zurückgekämmt, es reichte nicht ganz bis auf die Schultern. Ihre tiefliegenden dunkelbraunen Augen glänzten unter den perfekt geformten Augenbrauen, und ihre Hakennase ragte zwischen den dicklichen Wangen hervor. Der Anblick von Dr. Chakrabarti belebte Tonys Stimmung mehr, als irgendein Fernsehkanal es hätte tun können. Hier gab es interessantere Neuigkeiten als bei BBC24.
    Hinter ihr scharte sich ein halbes Dutzend Gefolgsleute in weißen Kitteln, die so jung aussahen, als seien sie Praktikanten aus einer Abiturklasse. Während sie sein Krankenblatt ergriff, lächelte sie Tony rasch und routiniert zu. »Also«, begann sie, und ihre Augen unter den geschwungenen Brauen warfen ihm einen Blick zu. »Wie fühlt es sich an?« Ihre Aussprache erinnerte eher an die königliche Familie als an den Akzent der Einwanderer von Bradfield. Tony hatte das Gefühl, seine Mütze ziehen oder einen Diener machen zu müssen.
    »Als hätten Sie mein Bein mit einem Bleirohr vertauscht«, antwortete er.
    »Kein Schmerz?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nichts, mit dem das Morphium nicht fertig werden könnte.«
    »Sie spüren keinen Schmerz, bevor das Morphium zu wirken beginnt?«
    »Nein. Sollte ich?«
    Dr. Chakrabarti lächelte. »Es ist nicht gerade das, was wir anstreben. Ich werde morgen früh das Morphium absetzen, um zu sehen, ob wir die Schmerztherapie mit anderen Mitteln weiterführen können.«
    Tony spürte ein Angstgefühl in sich aufsteigen. »Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«
    Dieses Lächeln erinnerte jetzt eindeutig an einen Raubvogel.
    »Genauso sicher, wie Sie bei Ihren Ratschlägen an Ihre Patienten sind.«
    Tony grinste. »Wenn das so ist, bleiben wir wohl doch lieber bei Morphium.«
    »Es wird Ihnen gutgehen, Dr. Hill.« Sie hängte das Krankenblatt wieder an seinen Platz und betrachtete Tonys Bein schräg von der Seite, um die beiden Schläuche in den Blick nehmen zu können, durch die eine blutige Flüssigkeit aus der Wunde am Knie abfloss. Sie wandte sich an die Studenten. »Sie sehen, dass nicht mehr viel aus der Wunde herauskommt«, erklärte sie und drehte sich jetzt wieder zu Tony um. »Ich glaube, wir können morgen die Drainage heraus- und diese Schiene abnehmen, damit wir uns ein Bild davon machen können, was Sie brauchen. Wahrscheinlich ein schönes Gipsbein.«
    »Wann kann ich nach Hause?«
    Dr. Chakrabarti drehte sich mit der üblichen herablassenden Haltung des Chirurgen zu ihren Studenten um. »Wann kann Dr. Hill nach Hause?«
    »Wenn er das Bein belasten kann.« Der Sprecher sah aus, als solle er eher Zeitungen austragen als

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