Schleichendes Gift
Ausrüstung plump wirkte, schon auf den Weg zu ihr. Was Carol zu hören bekam, als sie ausstieg, hatte sie genau so erwartet. »Tut mir leid, Sie können hier nicht parken«, erklärte die Polizistin müde, klang aber fast nachsichtig.
Carol zog ihren Dienstausweis aus der Tasche ihrer Lederjacke und sagte: »Ich brauche nicht lange.«
Die junge Beamtin wurde vor Verlegenheit rot. »Tut mir leid, Ma’am, ich habe Sie nicht erkannt …«
»Wie hätten Sie mich denn erkennen sollen«, erwiderte Carol. »Ich trage ja keine Uniform.« Sie zeigte auf ihre Jeans und die Arbeitsstiefel. »Ich wollte nicht wie eine Polizistin aussehen.«
Die junge Frau lächelte ihr unsicher zu. »Dann sollten Sie aber vielleicht auch nicht hier parken?«, wandte sie ein, wusste aber genau, welches Risiko sie damit einging.
Carol lachte. »Gutes Argument. Und wenn ich nicht so knapp dran wäre, würde ich das Auto woanders hinstellen.« Sie ging weiter auf das Geländer zu; die Blumen, Karten und Stofftiere nahmen fast den ganzen Gehweg ein, an manchen Stellen war kaum genug Platz, dass eine Person vorbeikonnte, ohne auf die Straße ausweichen zu müssen.
Zweifelsohne löste dies eine komplizierte emotionale Reaktion aus.
Ihr Beruf hatte Carol gelehrt, spontanen Gefühlen nicht nachzugeben. Man durfte sich bei ihrer Arbeit nicht seinen Stimmungen überlassen. Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter – alle mussten schon früh lernen, sich nicht in den echten persönlichen Kummer derjenigen, mit denen man zu tun hatte, hineinziehen zu lassen. Sie mussten sozusagen immun sein gegen die Wogen öffentlicher Gefühle, die durch Ereignisse wie Dianas Tod oder die Soham-Morde ausgelöst werden. Theoretisch wusste sie, dass jedes Leben, das vorzeitig ausgelöscht wurde, den gleichen Wert hatte. Aber wenn es um die Ermordung eines Menschen wie Robbie Bishop ging, um jemanden, der so jung und talentiert war und Millionen so viel Freude bereitet hatte, dann war es schwer, keinen stärkeren Zorn, tieferen Kummer und größere Entschlossenheit zu fühlen, den Schaden, soweit es in ihrer Macht stand, wieder zu beheben.
Carol hatte in den Fernsehreportagen kleine Ausschnitte gesehen, aber keine Vorstellung vom tatsächlichen Ausmaß der ausgestellten Trauergaben vor dem Fußballstadion gehabt. Es berührte sie, aber nicht wegen der sentimentalen Geste, mit der die Öffentlichkeit die Trauer für sich in Anspruch nahm. Es berührte sie, weil es so mitleiderregend war. Die Plüschtiere und Karten waren mit Dreck und schmutzigem Wasser von den Reifen der vorbeifahrenden Autos bespritzt und vom Regen durchnässt, der die ganze Nacht angehalten hatte. Der Gehweg, der von verwelkten Blumen übersät war, fing an, sich in einen illegalen Müllabladeplatz zu verwandeln.
So früh am Morgen war sie die einzige Anbeterin vor diesem Schrein. Ein paar Autos fuhren langsam vorbei, die Fahrer achteten kaum auf die Straße. Langsam ging Carol am Geländer entlang. Am hinteren Ende blieb sie stehen und zog ihr Telefon heraus. Sie wollte gerade auf Wahlwiederholung drücken, überlegte es sich dann aber anders. Da er in einem Krankenhaus des staatlichen Gesundheitsdienstes lag, war Tony wahrscheinlich schon auf. Aber wenn er doch noch schlief, wollte sie ihn nicht wecken. Das war der Vorwand, unter dem sie ihr Telefon ungeduldig wieder in die Tasche steckte.
Aber in Wahrheit wollte sie sich nicht wieder auf die dürftige Verbindung zwischen Robbie Bishop und Danny Wade einlassen. Dass Tony im Krankenhaus liegen musste, langweilte ihn so sehr, dass er Phantome erfand, damit sein Gehirn etwas zu tun hatte. Er brauchte etwas, das ihn beschäftigte, und hatte sich durch ein paar zufällige Übereinstimmungen hinreißen lassen, über die er sonst nur gelacht hätte. Statt die Sache fallenzulassen, sah er dort Serienmörder, wo es keine gab. Aber das war ja zu erwarten gewesen, nahm sie an. Es war das, was er am besten konnte und was er wahrscheinlich am stärksten vermisste. Carol fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er wieder arbeiten durfte, selbst wenn es nur halbtags war. Zumindest würden die Verrückten in Bradfield ihm vielleicht helfen, seine eigenen Dämonen im Zaum zu halten.
Sie konnte mit der Hoffnung leben. Und inzwischen würde sie sich auf ihre eigene Intuition verlassen. Die Intuition, die, so rief sie sich ins Gedächtnis, durch die enge Zusammenarbeit mit Tony geschärft worden war. Sie musste ihm nicht immer ihre Ideen darlegen,
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