Schleichendes Gift
von Robbie Bishop. Tonys Stuhl stand mit der Lehne an der Kühlanlage, die die Schubfächer für die Leichen beherbergte, und Robbie lag neben ihm in dem herausgezogenen Schubfach. »Ich hätte dich nicht erkannt«, begrüßte ihn Tony, als sich die Tür hinter dem Mann vom Transportdienst geschlossen hatte. »Ich verspreche, alles zu tun, um Carol zu helfen bei der Suche nach der Person, die dir das angetan hat. Als Gegenleistung kannst du mir eine Weile zuhören.
Es gibt Dinge, die man keiner Menschenseele anvertrauen kann. Nicht, wenn man meinen Beruf hat. Der Schrecken und Ekel auf ihren Gesichtern würden dich bestimmt sehr überraschen. Und das wäre nur der Anfang. Sie könnten es nicht so stehenlassen. Sie müssten etwas ändern. Etwas an mir ändern.
Und ich will wirklich nicht, dass sie etwas an mir ändern. Nicht weil ich glücklich, schmerzfrei und angepasst wäre. Denn das bin ich offensichtlich alles nicht. Wie könnte ich das bei meinem Beruf sein?
Aber ich bin ausgeglichen. Wie sagt W. B. Yeats? ›In balance with this life, this death.‹ So bin ich. In vollkommenem Gleichgewicht auf dem Scheitelpunkt zwischen Leben und Tod, geistiger Gesundheit und Verrücktheit, Vergnügen und Schmerz.
Wenn man daran etwas ändert, dann auf eigene Gefahr.
Es geht also nicht darum, dass ich mich ändern will. Weil ich keine Notwendigkeit zur Veränderung sehe. Ich komme sehr gut mit mir zurecht. Aber wenn man meinen Beruf hat, ist es unmöglich zu leugnen, dass es Auswirkungen gibt. Ich unterliege schließlich den Meinungen anderer Leute. Menschen, die nicht so sind wie ich – und das sind neunundneunzig Prozent der Bevölkerung, würde ich sagen –, fällen ständig Urteile über mich, die sich mehr auf ihre Bedürfnisse stützen denn auf meine Wahrheit. Deshalb will ich nicht, dass jemand hört, was ich über meine Mutter zu sagen habe. Besonders Carol nicht.
Ich kam neulich einmal morgens, als ich Milch kaufen ging, hier an der Grundschule vorbei, und da waren sie, die Kinder und die Eltern, mit allen Varianten von Freude bis Verzweiflung auf den Gesichtern. Es ließ mich an meine eigene Kindheit denken. Es gibt viele Bruchstücke, das Bild eines Wohnzimmers, dessen Besitzer ich jetzt nicht mehr beim Namen nennen kann, der Geschmack des Softdrinks aus Löwenzahn und Klette, der für immer mit dem Geräusch des fallenden Regens auf dem Dach der Spülküche verbunden ist, der Geruch des Hundes meiner Großmutter, das Gefühl von feuchtem Gras an meinen Knien, der schockierend starke Geschmack wilder Erdbeeren auf der Zunge. Bruchstücke, aber nur wenige vollständige Ereignisse.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte.
»Ich habe in Gruppentherapien gesessen und anderen Leuten zugehört, die lange und bemerkenswert gründlich über Dinge sprachen, die sie als Kinder erlebt hatten. Ich kann nicht ermessen, ob sie sich wirklich erinnerten, die Geschichten erfanden oder etwas konstruierten, das zu den wenigen Schlüsselelementen passte, die sie tatsächlich aus dem Bodensatz ihres Gedächtnisses heraufgeholt hatten. Ich weiß nur, dass das nicht mit der Art und Weise übereinstimmt, wie meine Erinnerung funktioniert. Nicht dass ich wünschte, ich hätte ihre Erinnerungen. Sie bewegen sich zwischen dem Banalen und dem wahrhaft Entsetzlichen. Keiner spricht so über die Kindheit, wie Schriftsteller, Dichter und Filmemacher es tun. Es sind nicht die Geschichten, an die man sich mit Wehmut erinnern würde.
Das ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesen Erzählern, die nicht bruchstückhaft erzählen, und mir. Ich sehne mich nicht in meine Kindheit zurück. Ich gehöre nicht zu denen, die bei einer Dinnerparty über die endlosen Sommer ihrer Kindheit, die glücklichen Zeiten ewig abgeschürfter Knie und den herrlichen Spaß einer Rasselbande in Hütten oder Baumhäusern ins Schwärmen geraten. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich eingeladen werde, bin ich der Einzige, der beim Thema Kindheit stumm dabeisitzt. Glaub mir, niemand will die paar zusammengeflickten Bruchstücke hören, an die ich mich entsinnen kann.
Ein Beispiel: Ich spiele auf dem Läufer vor dem Kamin im Haus meiner Großmutter. Meine Gran sammelt aus unerfindlichen Gründen, die mir nicht in Erinnerung geblieben sind, Halfpennys mit einem Schiff auf der Rückseite. Sie hat eine ganze Keksdose voll, die so schwer ist, dass ich sie kaum hochheben kann. Ich darf mit den Halfpennys spielen und baue gern Mauern für ein
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