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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudyard Kipling
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seinen Papa, fühlte sich aber unbehaglich und kam sich irgendwie klein vor.
    Die Venus Annodomini empfing sie mit großer Liebenswürdigkeit und der »junge« Gayerson sagte: »Bei Jove! Es ist Kitty!« Der »noch jüngere« Gayerson hätte auf seine Erklärungen geachtet, wäre seine Zeit nicht vollauf von dem Versuch in Anspruch genommen worden, sich mit einem großen, schönen, ruhigen und gut gekleideten Mädchen zu unterhalten, das die Venus Annodomini ihm als ihre Tochter vorgestellt hatte. Das Mädchen war in Haltung, Stil und Sicherheit weit älter als der »noch jüngere« Gayerson, und als er dies erkannte, spürte er eine gewisse Übelkeit.
    Nach einer Weile hörte er die Venus Annodomini sagen: »Wissen Sie, daß Ihr Sohn einer meiner treuesten Verehrer ist?«
    »Das wundert mich nicht,« sagte der »junge« Gayerson. Und dann hob er seine Stimme: »Er tritt in seines Vaters Fußtapfen. Ich betete doch den Boden an, auf dem Sie schritten, Kitty, damals, – vor undenklich langen Zeiten – und Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert. Wie seltsam das alles einem vorkommt!«
    Der »noch jüngere« Gayerson sagte gar nichts. Seine Unterhaltung mit der Tochter der Venus Annodomini war während des übrigen Besuches unzusammenhängend und fragmentarisch.
    *
    »Also morgen nachmittag um fünf,« sagte die Venus Annodomini. »Und seien Sie ja pünktlich.«
    »Punkt fünf«, sagte der »junge« Gayerson. »Du kannst deinem alten Vater doch einen Gaul leihen, was, Junge? Ich mache morgen Nachmittag einen Spazierritt.«
    »Selbstverständlich«, sagte der »noch jüngere« Gayerson. »Ich reise morgen früh nach Hause. Meine Ponies stehen zu deiner Verfügung.«
    Die Venus Annodomini blickte durch das Zwielicht des Zimmers zu ihm hinüber und ihre großen grauen Augen wurden feucht. Sie erhob sich und schüttelte ihm die Hand.
    »Leben Sie wohl, Tom,« flüsterte die Venus Annodomini.

Der Bisara von Pooree
    Ein Teil der Eingeborenen sagt, daß er von jenseits Kulu stamme, wo der elf Zoll hohe Tempelsaphir zu finden ist. Andere behaupten, er wäre vor dem Teufelsschrein von Ao-Chung in Thibet entstanden und von einem Kafir gestohlen worden, dem ihm ein Ghorka entwendete, der seinerseits von einem Lahuli beraubt wurde, den ein Khitmatgar oder Eingeborenendiener bestahl, der ihn an einen Engländer weiterverkaufte, wodurch er ihm all seine Zauberkräfte nahm; denn um zu wirken, muß der Bisara von Pooree gestohlen werden – wenn möglich unter Blutvergießen, gestohlen aber jedenfalls.
    Alle diese Erzählungen, wie er nach Indien gelangte, sind falsch. Er wurde vor Jahrhunderten in Pooree selbst gemacht. – Wie? das würde ein kleines Buch füllen. Dann wurde er von einer Tempelbajadere gestohlen, die damit ihre eigenen Zwecke verfolgte, und wanderte immer in gerader nördlicher Richtung von Hand zu Hand, bis er Hanlé erreichte: und immer trug er den gleichen Namen – der Bisara von Pooree. Seine Form ist die eines winzig kleinen Kästchens aus Silber, außen mit acht kleinen Balarubinen besetzt. Im Innern des Kästchens, das sich durch eine Feder öffnen läßt, ruht ein kleiner, augenloser Fisch, der aus einer dunklen Nußholzart geschnitzt und in einen Fetzen vergilbten Goldbrokats gewickelt ist. Das ist der Bisara von Pooree, und besser wäre es für einen Menschen, er nähme eine Königskobra in die Hand, als daß er den Bisara von Pooree berührte.
    Magie jeglicher Art ist heute unmodern geworden und abgetan, außer in Indien, wo nichts sich ändert, trotz des glänzenden, oberflächlichen und billigen Lacks, den manals »Zivilisation« bezeichnet. Jeder, der über den Bisara von Pooree Bescheid weiß, kann sagen, welches seine Kräfte sind – immer vorausgesetzt, daß der Bisara ehrlich gestohlen wurde. Er stellt mit einer Ausnahme den einzigen zuverlässigen, wirksamen Liebeszauber Indiens dar. (Die Ausnahme ist im Besitz eines Gemeinen von der Nizam Kavallerie an einem Ort, Tuprani genannt, direkt nördlich von Hyderabad.) Man kann sich auf diese Tatsache verlassen. Erklären mag sie jemand anders.
    Wird der Bisara nicht gestohlen, sondern verschenkt, gekauft oder gefunden, so wendet er sich innerhalb dreier Jahre gegen seinen Besitzer und führt zum Ruin oder zum Tode. Das ist eine weitere Tatsache, die aufklären mag, wer Zeit dazu hat. Inzwischen kann man sich ja darüber lustig machen. Gegenwärtig ist der Bisara von Pooree sicher aufgehoben an eines Ekka-Ponnys Hals hinter der Schnur

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