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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudyard Kipling
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erregte ihr Mißfallen; sie zog eine gemäßigte und ernste Zärtlichkeit vor.
    Der »noch jüngere« Gayerson war todunglücklich und gab sich nicht die geringste Mühe, sein Elend zu verbergen. Er stand in der Armee – bei einem Linienregiment, glaube ich, obwohl ich das nicht ganz genau weiß – und da sein Gesicht ein Spiegel und seine Stirn, dank seiner vollkommenen Unschuld, ein offenes Buch war, machten ihm seine Kameraden das Leben zur Last und verbitterten seinen von Natur aus liebenswürdigen Charakter. Niemand außer dem »noch jüngeren« Gayerson – und der gab seine Ansichten niemals zum besten – wußte, für wie alt der »noch jüngere« Gayerson die Venus Annodomini hielt. Vielleicht glaubte er, daß sie fünfundzwanzig sei, vielleicht sagte sie ihm auch, sie sei so alt wie er. Der »noch jüngere« Gayerson hätte den Gugger bei Hochwasser durchwatet, um ihren leisesten Befehl weiterzutragen und vertraute ihr rückhaltlos. Jeder mochte ihn gern und jedem tat es leid, ihn so als Sklave der Venus Annodomini zu sehen. Jeder gab aber auch offen zu, daß es nicht ihre Schuld sei; denn die Venus Annodomini unterschied sich in einem besonderen Punkt von Mrs. Hauksbee und Mrs. Reiver: sie rührte nie einen Finger um irgend jemanden an sich zu fesseln, doch gleich Ninon de Lenclos zog sie alle Männer an. Man konnte Mrs. Hauksbee bewundern und respektieren und Mrs. Reiver verachten und meiden, aber man war einfach gezwungen, die Venus Annodomini zu vergöttern.
    Des »noch jüngeren« Gayerson Papa verwaltete eine Abteilung oder einen Bezirk oder war sonst irgendwie administrativ tätig in einer ganz besonders unerfreulichen GegendBengaliens – voller Babus, die Zeitungen herausgaben, in denen bewiesen wurde, daß der »junge« Gayerson ein »Nero« und eine »Scylla« und eine »Charybdis« wäre; und außer den Babus gab es dort unten neun Monate im Jahr noch ziemlich viel Dysenterie und Cholera. Der »junge« Gayerson – er war etwa fünfundvierzig – konnte Babus ganz gut leiden; sie amüsierten ihn; aber er hatte etwas gegen die Dysenterie, und wenn er fort konnte, ging er meistens nach Darjiling. In diesem besonderen Jahre setzte er es sich aber in den Kopf, einmal nach Simla zu reisen und seinen Jungen zu besuchen. Der Junge war nicht durchwegs entzückt. Er erzählte der Venus Annodomini, daß er seinen Vater erwarte, und sie errötete ein wenig und sagte, sie würde sich ungemein freuen, seine Bekanntschaft zu machen. Dann sah sie den »noch jüngeren« Gayerson lange gedankenvoll an, weil er ihr sehr, sehr leid tat und weil er ein sehr, sehr großer Idiot war.
    »Meine Tochter wird in etwa vierzehn Tagen von drüben kommen, Mr. Gayerson,« bemerkte sie.
    »Ihre, was?« fragte er.
    »Meine Tochter,« entgegnete die Venus Annodomini. »Sie ist nun schon seit einem Jahr daheim in die Gesellschaft eingeführt, und ich möchte, daß sie Indien auch ein wenig kennen lernt. Sie ist jetzt neunzehn und soll ein sehr nettes, vernünftiges Mädel sein.«
    Der »noch jüngere« Gayerson, der knapp zweiundzwanzig Jahre alt war, fiel vor Erstaunen fast vom Stuhl, aber er fuhr fort, gegen alle Möglichkeit an die Jugend der Venus Annodomini zu glauben. Sie dagegen stand mit dem Rücken gegen das verhängte Fenster und beobachtete lächelnd die Wirkung ihrer Worte.
    Zwölf Tage später erschien der Papa des »noch jüngeren« Gayerson und war noch keine vierundzwanzig Stunden inSimla, bevor zwei Männer, alte Bekannte von ihm, ihm erzählten, wie der »noch jüngere« Gayerson sich aufgeführt hatte.
    Der »junge« Gayerson lachte ziemlich viel und fragte, wer denn die Venus Annodomini sei. (Was beweist, daß er die ganze Zeit in Bengalien gelebt hatte, wo niemand über irgend etwas Bescheid weiß, außer über den Stand der Wechselkurse.) Dann meinte er, »junge Burschen wären nun mal überall gleich« und sprach mit seinem Sohne über die Angelegenheit. Der »noch jüngere« Gayerson sagte, daß er unglücklich und untröstlich sei, und der »junge« Gayerson sagte, daß er bedauere, jemals dazu beigetragen zu haben, einen derartigen Esel in die Welt zu setzen. Er meinte, daß es angebracht wäre, wenn sein Sohn seinen Urlaub abbräche und in seinen Dienst zurückkehrte. Dies rief einige unehrerbietige Antworten hervor, und die Beziehungen waren einigermaßen gespannt, bis der »junge« Gayerson verlangte, daß sie der Venus Annodomini einen Besuch machten. Der »noch jüngere« Gayerson begleitete

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