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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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überdies ein Mann, der zur Sache kommen möchte. Sie wollen genau wissen, warum wir hier sind. Also schön, David Gurney. Dann komme ich zur Sache. Ich bin vielleicht Ihr größter Fan. Weshalb? Aus zwei Gründen. Zum einen halte ich Sie für einen bedeutenden Porträtkünstler. Zum anderen beabsichtige ich, mit Ihren Arbeiten viel Geld zu verdienen. Bitte beachten Sie, welchen der beiden Gründe ich zuerst genannt habe. Aus Ihrem bisherigen Werk kann ich bereits erkennen, dass Sie die seltene Gabe besitzen, das Bewusstsein eines Menschen in den Linien seines Gesichts darzustellen und seine Seele durch die Augen schimmern zu lassen. Diese Gabe kann sich nur durch Reinheit entfalten. Es ist nicht die Gabe eines Mannes, der auf Geld oder Aufmerksamkeit aus ist, eines Mannes, der viele Worte macht, um Anklang zu finden. Es ist die Gabe eines Mannes, der in all seinen Angelegenheiten – egal, ob beruflich, privat oder künstlerisch – vor allem Wert auf Wahrheit legt. Ich dachte mir bereits, dass Sie so sind, aber ich wollte sichergehen.« Geraume Zeit hielt er Gurneys Blick, ehe er fortfuhr. »Was möchten Sie zum Mittagessen? Es gibt kalten Seebarsch in Remoulade, eine Limettenceviche mit Meeresfrüchten, Quenelles de Veau, ein herrliches Kobesteaktatar – was Sie wollen. Oder vielleicht von allem ein bisschen?«
    Noch während er redete, schälte er sich langsam aus seinem Sessel. Mit einem Mal hielt er inne, um sich nach einer Abstellmöglichkeit für sein Gläschen umzuschauen. Schließlich deponierte er es achselzuckend in dem Pflanzentopf neben sich. Dann umklammerte er mit beiden Händen die Sessellehnen und schob sich mühsam nach oben, um voraus zum Speisesaal zu schreiten.
    Der faszinierendste Einrichtungsgegenstand dieses Zimmers war ein lebensgroßes Porträt in einem goldenen Rahmen an der Wand gegenüber dem Bogendurchgang. Mit seinem begrenzten kunstgeschichtlichen Wissen konnte Gurney das Bild nur vage der niederländischen Renaissance zuordnen.
    »Bemerkenswert, nicht?«
    Gurney stimmte zu.
    »Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Beim Essen kann ich Ihnen mehr darüber erzählen.«
    Zwei Gedecke standen sich auf dem Tisch gegenüber. Die von Jykynstyl angekündigten Gerichte waren auf vier chinesischen Platten aufgereiht, dazu je eine Flasche Puligny Montrachet und Château Latour. Obwohl er nicht viel von Wein verstand, wusste Gurney doch, dass es sich hier um ausgesprochen teure Marken handelte.
    Er entschied sich für Montrachet und Seebarsch, Jykynstyl für Latour und Tartar.
    »Sind beide Mädchen Ihre Töchter?«
    »So ist es.«
    »Und Sie leben hier zusammen?«
    »Von Zeit zu Zeit. Wir sind keine Familie mit festem Aufenthaltsort. Ich komme und gehe. Das ist das Wesen meines Lebens. Meine Töchter wohnen hier, wenn sie nicht gerade woanders sind.« Er sprach über dieses Arrangement in einem Ton, der auf Gurney genauso trügerisch beiläufig wirkte wie sein schläfriger Blick.
    »Und wo verbringen Sie die meiste Zeit?«
    Jykynstyl legte die Gabel auf den Rand des Tellers, als würde sie ihn an einer klaren Ausdrucksweise hindern. »Eine Weile hier und dann eine Weile dort zu sein – das entspricht nicht meiner Denkweise. Ich bin … in Bewegung. Begreifen Sie?«
    »Ihre Antwort ist philosophischer als meine Frage. Ich möchte sie auf eine andere Weise stellen. Haben Sie an anderen Orten noch ähnliche Wohnungen oder Häuser?«
    »Manchmal nehmen mich Verwandte in anderen Ländern auf, oder sie nehmen mit mir vorlieb, wie es so schön heißt. In meinem Fall trifft wohl beides zu.« Wieder zeigte er sein kaltes Elfenbeinlächeln. »Ich bin also ein Heimatloser, der überall heimisch ist.« Der Mischakzent von überall und nirgends wurde stärker, wie um seine Behauptung zu unterstreichen. »Wie der wunderbare Mr Wordsworth wandere ich einsam wie eine Wolke. Auf der Suche nach Goldnarzissen. Ich habe ein gutes Auge für diese Narzissen. Doch das allein genügt nicht. Man muss auch danach Ausschau halten. Das ist mein doppeltes Geheimnis, David Gurney: ein gutes Auge und das ständige Ausschauhalten. Das ist mir viel wichtiger als das Leben an einem bestimmten Ort. Ich lebe nicht hier oder dort. Ich lebe in der Aktivität, in der Bewegung. Ich bin kein Ansässiger, ich bin ein Suchender. Der Unterschied zu Ihrem Leben, Ihrem Beruf ist vielleicht gar nicht so groß, oder?«
    »Ich verstehe, was Sie meinen.«
    »Sie verstehen, was ich meine, aber Sie sind nicht meiner Auffassung.« Er wirkte eher

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