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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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Glas Montrachet.
    Dann redete Jykynstyl wieder, lobte Gurneys Scharfblick, sein psychologisches Einfühlungsvermögen, sein Auge für Details. Doch es war mehr der Rhythmus der Worte als ihr Sinn, der Gurney fesselte, der ihn trug und sanft wiegte. Nun räumten die strahlenden jungen Frauen den Tisch ab, und Jykynstyl beschrieb ihm diverse exotische Desserts. Etwas Sahniges mit Rosmarin und Kardamom. Etwas Seidiges mit Safran, Thymian und Zimt. Gurney musste lächeln, als er sich vorstellte, dass der sonderbar komplexe Akzent des Mannes selbst ein Gericht mit Gewürzen war, die man normalerweise nicht kombinierte.
    Eine berauschende und völlig untypische Empfindung von Freiheit, Optimismus und Stolz auf seine Leistungen durchströmte ihn. So hatte er sich schon immer fühlen wollen – voller Klarheit und Kraft. Die Empfindung verschmolz mit dem herrlichen Blau von Wasser und Himmel, mit einem Boot unter vollen weißen Segeln, das auf den Flügeln einer unendlichen Brise dahinsauste.
    Dann spürte er nichts mehr.

Teil III –
Verhängnisvolle Unachtsamkeit

43
Erwachen
    Kein Knochen zerbricht so schmerzvoll wie die Illusion von Unbezwingbarkeit.
    Gurney hatte keine Ahnung, wie lange er schon in seinem Auto saß, wie er hierhergekommen war und wie spät es war. Immerhin wusste er, dass es bereits dunkel war, dass er neben Empfindungen von Beklemmung und Übelkeit fürchterliche Kopfschmerzen hatte und dass er sich an nichts erinnern konnte, was nach dem zweiten Glas Wein beim Mittagessen geschehen war. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor neun. Eine derart verheerende Wirkung hatte er nach Alkoholgenuss noch nie erlebt – und schon gar nicht nach zwei Gläsern Weißwein.
    Die naheliegende Erklärung war, dass er unter Drogen gesetzt worden war.
    Aber warum?
    Das leere Starren auf dieses Fragezeichen verstärkte nur seine Beklemmung. Und das hilflose Starren in ein Nichts fehlender Erinnerungen machte die Sache noch schlimmer. Dann wurde ihm schlagartig klar, dass er sich nicht hinter dem Steuer seines Wagens befand, sondern auf dem Beifahrersitz. Die Tatsache, dass er nach dem Aufwachen eine volle Minute gebraucht hatte, um das zu bemerken, ließ jäh Panik in ihm aufsteigen.
    Hastig spähte er durch die Fenster vorn und hinten und entdeckte, dass er auf halber Höhe eines langen Blocks stand – wahrscheinlich irgendwo in Manhattan. Auf jeden Fall zu weit von einer Kreuzung, um ein Straßenschild zu erkennen. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, überwiegend Taxis; Fußgänger waren nicht in der Nähe. Er öffnete die Tür und stieg mit steifen, schmerzenden Gliedern vorsichtig aus. Er fühlte sich, als hätte er lange Zeit unbequem gesessen. In beiden Richtungen hielt er Ausschau nach irgendeinem bekannten Haus.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich irgendein offizieller Bau, eine Schule vielleicht, mit breiter Steintreppe, einer mindestens drei Meter hohen massiven Tür und einer klassischen Fassade.
    Dann bemerkte er es.
    Über den hohen griechischen Säulen, im Zentrum des Frieses, der sich über die gesamte Breite des dreistöckigen Hauses hinzog, direkt unter dem schattigen Dachende, zeichnete sich kaum sichtbar ein eingraviertes Motto ab: AD STUDIUM VERITATIS .
    Ad studium veritatis? Die Genesius Highschool? Die er besucht hatte? Wie zum Teufel …?
    Wie vor den Kopf geschlagen starrte er den dunklen Steinbau an. Er hatte auf dem Beifahrerplatz seines Wagens gesessen, also hatte ihn jemand hergefahren. Wer? Er hatte keine Ahnung, keine Erinnerung.
    Und warum hierher?
    Bestimmt war es kein Zufall, dass man ihn ausgerechnet an diesem Ort von tausend möglichen in Manhattan abgesetzt hatte, direkt gegenüber der Eingangstür der Highschool, an der er vor dreißig Jahren seinen Abschluss gemacht hatte – jener hochangesehenen akademischen Institution, zu der er dank eines Stipendiums täglich von der Wohnung seiner Eltern in der Bronx gependelt war, die er gehasst und seither nicht mehr besucht hatte. Eine Schule, über die er nie sprach. Eine Schule, von deren Existenz in seinem Leben nur wenige Menschen wussten.
    Was um Himmels willen ging da vor?
    Wieder spähte er in beide Richtungen, als müsste jeden Augenblick ein Bekannter aus dem Dunkel auftauchen, um ihm das Ganze zu erklären. Aber niemand tauchte auf. Er stieg wieder ins Auto, diesmal auf der Fahrerseite. Dass der Schlüssel steckte, war eine kleine Erleichterung, sicher besser, als hätte er ihn nicht gefunden, doch das

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