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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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sie nahm lieber eine Taxe. Sie wollte
keine letzten Anweisungen. Als sie ausstieg und zu dem unscheinbaren
Einfamilienhaus aus den sechziger Jahren ging, wurde sie ganz ruhig. Für ein
solches Haus hatte er sie verlassen? Er mochte es zum Professor gebracht haben
- jedenfalls war er ein Spießer geworden. Oder war er immer einer gewesen?
    Er
machte die Tür auf. Sie erkannte sein Gesicht, die dunklen Augen, die
buschigen Brauen, das volle Haar, jetzt weiß, die scharfe Nase und den breiten
Mund. Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, dünn, und der Anzug,
linker Ärmel in der linken Tasche, hing an seinen Knochen wie an einem
Gestell. Er lächelte leicht. »Nina!«
    »Es
war nicht meine Idee. Meine Enkelin Emilia meinte,
ich sollte...«
    »Komm
rein. Du kannst mir gleich erklären, warum du nicht hier sein willst.« Er ging
voraus, und sie folgte ihm durch einen Flur und ein Zimmer voller Bücher auf
die Terrasse. Der Blick ging über Obstbäume und Wiesen zu einem waldigen
Bergzug. Er sah, wie erstaunt sie war. »Auch ich mochte das Haus nicht, bis ich
auf der Terrasse stand.« Er rückte ihr den Sessel zurecht, schenkte ihr und
sich Tee ein und setzte sich ihr gegenüber. »Warum willst du nicht hier sein?«
    Sie
konnte sein Lächeln nicht deuten. Spöttisch? Verlegen? Bedauernd? »Ich weiß
nicht. Mir war die Vorstellung, dich jemals wiederzusehen, unerträglich.
Vielleicht war die Vorstellung schließlich nur noch eine Gewohnheit. Aber ich
hatte sie.«
    »Wie
kam deine Enkelin darauf, du solltest mich wiedersehen?«
    »Ach«,
sie machte eine wegwerfende Handbewegung, »ich habe ihr von unserem Sommer
erzählt. Sie hatte so törichte Ideen über das Leben und die Liebe damals, dass
ich mich habe hinreißen lassen.«
    »Was
hast du ihr von unserem Sommer erzählt?« Er lächelte nicht mehr.
    »Was
fragst du? Du warst doch dabei, beim Medizinerball und beim Kuss unter der Tür
und im Zimmer im Gasthof.« Sie wurde ärgerlich. »Und du warst auf dem Bahnsteig
dabei und bist in den Zug gestiegen und abgefahren und hast dich nicht mehr
gemeldet.«
    Er
nickte. »Wie lange hast du vergebens gewartet?«
    »Ich
weiß nicht mehr, wie viele Tage und Wochen es waren. Es war eine Ewigkeit, das
weiß ich noch, eine Ewigkeit.«
    Er
sah sie traurig an. »Es waren keine zehn Tage, Nina. Nach zehn Tagen kam ich
zurück und erfuhr von deiner Wirtin, dass du ausgezogen warst. Ein junger Mann
hatte dich abgeholt, er hatte deine Sachen in ein Auto geladen und war mit dir
weggefahren.«
    »Du
lügst!« Sie fuhr ihn an. »Nein, Nina, ich lüge nicht.«
    »Willst
du, dass ich den Boden unter den Füßen verliere? Dass ich meinem Verstand und
meiner Erinnerung nicht mehr traue? Dass ich verrückt werde? Wie kannst du
solche Sachen sagen!«
    Er
lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand über Gesicht und Kopf.
»Erinnerst du dich, wohin ich damals aufbrach?«
    »Nein,
ich erinnere mich nicht. Aber ich erinnere mich, dass du nicht geschrieben und
nicht telefoniert hast und dass...«
    »Ich
bin zu einem philosophischen Kongress in Budapest gefahren und konnte dich von
dort nicht anrufen und dir von dort nicht schreiben. Es war Kalter Krieg, und
weil ich nicht dort sein durfte, konnte ich mich auch nicht von dort melden.
Das hatte ich dir alles erklärt.«
    »Ich
weiß noch, dass du eine Reise gemacht hast, die du ebenso hättest lassen
können. Aber so warst du, du hattest deine Philosophie, dann kam nichts, dann
kamen deine Kollegen und Freunde, und dann kam ich.«
    »Auch
das stimmt nicht, Nina. Dass ich damals wie wild an meiner Dissertation
gearbeitet habe, lag daran, dass ich fertig werden, einen Job finden und dich
heiraten wollte. Du wolltest geheiratet werden, das war klar, und der Junge aus
Hamburg war mir immer eine Nasenlänge voraus. Kanntet ihr euch nicht aus der
Kindheit? Waren eure Familien nicht befreundet und er Assistent bei deinem
Vater?«
    »Das
ist so falsch wie alles, was du sagst. Mein Vater hat ihn beim Studium und bei
der praktischen Ausbildung beraten, weil er ihn mochte, aber Assistent, nein,
mein Mann war nie Assistent bei meinem Vater.«
    Er
sah sie müde an. »Hattest du Angst, aus deiner bürgerlichen in meine ärmliche
Welt zu fallen? Bei mir nicht zu kriegen, was du gewohnt warst und gebraucht
hast? Ich stand vor dem Haus deiner Eltern in Hamburg - war es das?«
    »Was
soll das: ein verwöhntes bürgerliches Gör aus mir machen? Ich habe dich
geliebt, und du hast es kaputtgemacht und willst es

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