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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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ohne
sie nicht mehr vorstellen. Ich kann mir auch sonst kein anderes als mein Leben
vorstellen. Natürlich kann ich mir dies und das ausdenken, aber es bleibt abstrakt.«
    »Das
geht mir nicht so. Ich stelle mir ständig Sachen anders vor, als sie passiert
sind. Wie, wenn ich doch zu Ende studiert und gearbeitet hätte? Wenn ich
immerhin die Stelle als Redaktionsassistentin übernommen hätte? Wenn ich mich
von Helmut hätte scheiden lassen, als er seine erste Affäre hatte? Wenn ich die
Kinder nicht so ernst und streng, sondern chaotischer und fröhlicher erzogen
hätte? Wenn ich das Leben nicht nur als Räderwerk von Pflichten und Verantwortung
gesehen hätte? Wenn du mich nicht verlassen hättest?«
    »Ich...«
Er redete nicht weiter.
    Sie
hatte es noch mal sagen müssen. Aber sie wollte keinen Streit und ihn nicht
verärgern und fragte: »Kann ich verstehen, was du geschrieben hast? Ich würde
es gerne versuchen.«
    »Ich
schicke dir etwas, das dich vielleicht interessiert. Magst du mir deine Adresse
geben?«
    Sie
machte ihre Handtasche auf und gab ihm eine Visitenkarte.
    »Danke.«
Er hielt die Karte in der Hand. »Ich hab's in meinem Leben nie zu Visitenkarten
gebracht.«
    Sie
lachte. »Es ist nicht zu spät.« Sie stand auf. »Rufst du bitte eine Taxe?«
    Sie
folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Es lag neben dem Zimmer mit der Terrasse und
hatte wieder den Blick auf die Berge. Während er telefonierte, sah sie sich um.
Auch hier die Wände voller Regale, neben dem Schreibtisch mit Büchern und
Papieren auf der einen Seite ein Tisch mit Computer, auf der anderen eine
Pinnwand voller Rechnungen, Abholzettel, Zeitungsausschnitte, handschriftlicher
Notizen, Fotografien. Die große, hagere Frau mit den traurigen Augen musste
Julia sein, die jüngere Frau mit dem verschlossenen Gesicht seine Tochter. Auf
einem Bild schaute ein schwarzer Hund mit ebenso traurigen Augen in die Kamera
wie Julia. Auf einem anderen stand Adalbert im schwarzen Anzug neben anderen
Herren in schwarzen Anzügen, als seien sie verspätete Abiturienten. Der Mann
in Uniform und die Frau in Schwesterntracht, die Arm in Arm vor einem
Hauseingang standen, mussten Adalberts Eltern sein.
    Dann
sah sie die kleine schwarzweiße Fotografie von ihm und ihr. Sie standen auf
einem Bahnsteig und hielten sich umarmt. Das konnte doch nicht... Sie
schüttelte den Kopf.
    Er
legte den Hörer auf und trat neben sie. »Nein, das ist nicht von unserem
Abschied. Wir haben dich einmal am Bahnhof abgeholt, deine Freundin Elena, mein
Freund Eberhard und ich. Es war später Nachmittag, und wir sind zusammen an den
Fluss und haben ein Picknick gemacht. Eberhard hatte von seinem Großvater ein
Grammophon zum Aufziehen geerbt und beim Trödler alte Schellackplat ten gefunden, und wir haben in die Nacht getanzt. Weißt du
noch?«
    »Hing
das Bild immer neben deinem Schreibtisch?«
    Er
schüttelte den Kopf. »Nicht in den ersten Jahren. Aber seitdem. Die Taxe ist
gleich da.«
    Sie
gingen an die Straße. »Kümmerst du dich um den Garten?«
    »Nein,
das macht ein Gärtner. Ich schneide die Rosen.«
    »Vielen
Dank«, sagte sie, legte die Arme um ihn und spürte seine Knochen. »Bist du
gesund? Du bist nur Haut und Knochen.«
    Er
legte seinen rechten Arm um sie und hielt sie. »Mach's gut, Nina.«
    Dann
kam die Taxe. Adalbert hielt die Tür auf, half ihr hinein und machte die Tür
zu. Sie drehte sich um und sah ihn da stehen und kleiner und kleiner werden.
     
    11
     
    Emilia hatte im Foyer gewartet, sprang auf und lief ihr entgegen.
»Wie war's?«
    »Ich
erzähle dir morgen auf der Fahrt. Alles, was ich jetzt möchte, ist zu Abend
essen und ins Kino gehen.«
    Sie
aßen auf der Terrasse im Innenhof. Es war früh, sie waren die ersten Gäste,
und das Häusergeviert schirmte die Geräusche der Straße und des Verkehrs ab. Auf
einem Dach sang eine Amsel, um sieben läuteten die Glocken, sonst war es still. Emilia, ein bisschen gekränkt,
mochte nicht reden, und so aßen sie schweigend.
    Ihr
war nicht wichtig, was für einen Film sie sah. Sie war in ihrem Leben nicht oft
ins Kino gegangen und hatte sich nie ans Fernsehen gewöhnt. Aber sie fand die
bewegten bunten Bilder auf der großen Leinwand überwältigend und wollte sich
an diesem Abend überwältigen lassen. Das tat der Film auch, aber nicht so, dass
sie alles vergaß, sondern dass sie alles erinnerte: die Träume, die sie als
Kind geträumt hatte, ihre Sehnsucht nach etwas, das größer und schöner wäre als
der Familien-

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