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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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einfach nicht mehr
wissen.«
    Er
schwieg, wandte den Kopf ab und sah über die Wiesen zu den Bergen. Ihr Blick
folgte seinem, und sie sah Schafe auf den Wiesen weiden. »Schafe!«
    »Ich
war gerade dabei, sie zu zählen. Erinnerst du dich, wie zornig ich werden
konnte? Wahrscheinlich habe ich dich auch damit verschreckt. Ich kann immer
noch zornig werden, und Schafe zählen hilft.«
    Sie
versuchte, vergebens, sich an Zornausbrüche von ihm zu erinnern. Ihr Mann, ja,
ihr Mann konnte sie mit seinem kalten Zorn frieren machen. Wenn er ihn über
Tage durchhielt, trieb er sie zur völligen Verzweiflung. »Hast du mich
angeschrien?«
    Er
antwortete nicht. Stattdessen fragte er: »Erzählst du mir von deinem Leben? Ich
weiß, dass du geschieden bist; das Bild deines Manns bei seinem achtzigsten
Geburtstag mit einer anderen Frau habe ich in der Zeitung gesehen. Auch seine
Kinder waren auf dem Bild - waren es eure?«
    »Willst
du hören, dass mein Leben schiefgelaufen ist? Dass ich damals auf dich hätte
warten sollen?«
    Er
lachte. Sie erinnerte sich, dass sie sein rückhaltloses, überbordendes Lachen
gemocht und dass es sie zugleich erschreckt hatte. Sie merkte, dass er nicht
nur über ihre Frage lachte; er lachte die Spannung des Gesprächs weg. Aber was
war an ihrer Frage eigentlich komisch?
    »Ich
habe mal darüber geschrieben, dass die großen, die Lebensentscheidungen nicht
richtig oder falsch sind, dass man nur verschiedene Leben lebt. Nein, ich denke
nicht, dass dein Leben schiefgelaufen ist.«
     
    10
     
    Sie
erzählte. Sie hatte das Studium aufgegeben, weil ihr Mann sie brauchte. Er
hatte eine Oberarztstelle bekommen, obwohl er nicht habilitiert war, und von
ihm wurde erwartet, dass er die Habilitation rasch nachholen werde. Außerdem
hatte er die Redaktion einer wichtigen Fachzeitschrift übernommen. Sie schrieb
und redigierte für ihn. »Ich war gut. Helmuts Nachfolger bot mir eine Stelle
als Redaktionsassistentin an. Aber Helmut sagte ihm, das müsse warten, bis ich
fröhliche Witwe sei.«
    Dann
kamen die Kinder. Sie kamen in schneller Folge, und wenn es beim vierten nicht
Komplikationen gegeben hätte, wären noch mehr gekommen. »Du hast eine Tochter -
ich weiß nicht, wie ihr es gemacht habt, aber bei vier Kindern war nicht daran
zu denken, wieder mit dem Studium anzufangen. Ich hatte alle Hände voll zu
tun. Aber es war auch schön, die Kinder aufwachsen und was werden zu sehen. Der
Große ist Richter am Bundesgericht, der Nächste ist Museumsdirektor, und die
Mädchen sind Hausfrauen und Mütter, wie ich, aber die eine ist mit einem
Professor verheiratet und die andere mit einem Dirigenten. Ich habe dreizehn
Enkel - hast du auch welche?«
    Er
schüttelte den Kopf. »Meine Tochter ist nicht verheiratet und hat keine
Kinder. Sie ist ein bisschen autistisch.«
    »Wie
war deine Frau?«
    »Sie
war fast so groß und so dünn wie ich. Sie schrieb Gedichte, wunderbare,
verrückte, verzweifelte Gedichte. Ich liebe die Gedichte, obwohl ich sie oft
nicht verstehe. Ich habe auch die Depressionen nicht verstanden, mit denen
Julia ihr Leben lang gekämpft hat. Nicht, was sie ausgelöst und was sie beendet
hat, ob es einen Rhythmus des Monds oder der Sonne gab, ob eine Rolle gespielt
hat, was wir gegessen und getrunken haben.«
    »Aber
sie hat sich nicht umgebracht!«
    »Nein,
sie ist an Krebs gestorben.«
    Sie
nickte. »Nach mir hast du dir eine ganz andere gesucht. Ich hätte gerne mehr
gelesen in meinem Leben, aber ich habe so lange nur gelesen, was ich für die
Redaktion lesen musste, und dann, was ich lesen wollte, weil die Kinder es
gerade lasen und ich mit ihnen darüber reden wollte, dass ich das Lesen für
mich verlernt habe. Ich hätte jetzt viel Zeit zum Lesen. Aber wenn ich's
gelesen habe, was soll ich damit anfangen?«
    »Ich
stand in der Küche, als du den kurzen Weg von der Straße zum Haus gekommen
bist, und habe sofort deinen Schritt erkannt. Du trittst immer noch so fest auf
wie damals. Klack, klack, klack - ich habe nie eine Frau getroffen, die so
entschlossen läuft. Damals habe ich gedacht, du seist so entschlossen, wie du
läufst.«
    »Und
ich habe damals gedacht, du würdest mich so leicht und sicher durchs Leben
führen, wie du mich beim Tanzen geführt hast.«
    »Ich
hätte auch gerne so gelebt, wie ich getanzt habe. Julia hat gar nicht getanzt.«
    »Warst
du mit ihr glücklich? Bist du über dein Leben glücklich?«
    Er
atmete tief ein und aus und lehnte sich zurück. »Ich kann mir das Leben

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