Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Susan hatte wohl auch bemerkt, dass hier nicht alles rund lief. Schwungvoll hakte sie sich bei mir ein und eskortierte mich zu meiner Kammer unter dem Dach.
Nach ein paar Stufen drehte ich mich noch einmal um. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass Christopher uns nachstarrte. Und tatsächlich, er war stehen geblieben und beobachtete uns – mich, um genau zu sein.
Als in diesem Moment die aufgehende Sonne zum bunt verglasten Fenster hereinschien und ihn mit schillernder Helligkeit umhüllte, starrte ich für einen endlosen Augenblick zurück, inseine warmen smaragdgrünen Augen, die zu kaltem Jadegrün erstarrten. Bestürzt wich ich seinem Blick aus, bevor ich neben Susan die Treppe emporhastete.
Susan blieb noch eine Weile auf meinem Zimmer und versuchte, mich auszuhorchen. Obwohl ich wieder klar denken konnte, fiel es mir nicht leicht, ihren hartnäckigen Fragen auszuweichen. Erst nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich aus Italien kam – was ihre Neugier für meine Klamotten weckte –, schien sie zufrieden zu sein.
Mit untergeschlagenen Beinen beobachtete ich, wie sie meinen Rucksack auspackte und die Kleidungsstücke in meinen Schrank räumte – ich hatte zugestimmt, um sie von mir abzulenken. Entzückt holte sie ein Teil nach dem anderen heraus, hielt es vor sich hin und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Irgendwann fragte sie mich, ob sie ein paar Sachen anprobieren dürfe. Auch wenn ich mir sicher war, dass sie ihr kaum passen würden, weil sie um einiges größer war als ich, willigte ich ein. Susan wirkte mit ihrer natürlichen Art angenehm erfrischend, und ich war froh, dass es auf dem Internat jemand Nettes gab, der auch die Ferien hier verbrachte.
Meine Gedanken schweiften ab: zu Christopher. Seine Augen gingen mir nicht mehr aus dem Kopf – der bedrohliche Blick, mit dem er mich fixiert hatte. Das war Rekordzeit, und ich hatte ihn nicht mal blöd angemacht.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Susans fröhliches Lachen riss mich aus meinen Tagträumen.
»Ich, ja, nein. Entschuldige, ich war gerade in Gedanken ganz woanders.«
»Wo denn? Vielleicht bei Chris?«, fragte sie mit einem bohrenden Unterton – ich leugnete mit einem »Nein«.
Susan lächelte nachdenklich vor sich hin. »Ja, er hat wirklich etwas Besonderes an sich. Und das, obwohl es ihm bestimmt nicht leichtfällt, hier zu sein.«
Susans und meine Meinung von etwas Besonderem schienen weit auseinanderzuliegen. Ich mochte hilfsbereite Jungs, die nett zu mir waren und nicht versuchten, mir Angst einzujagen. Hatte seine schöne Fassade sie so geblendet oder lief da mehr zwischen den beiden? Aber das war nicht meine Sache!
Ich lenkte Susans Aufmerksamkeit auf meine Klamotten zurück, auch wenn ich neugierig war zu erfahren, was sie mit obwohl es ihm bestimmt nicht leichtfällt, hier zu sein gemeint hatte. Konnte man auch Tutoren zwingen, aufs Internat zu gehen? Oder war Christopher noch nicht volljährig? Viel älter als neunzehn sah er eigentlich auch nicht aus.
Kurz bevor es Zeit zum Frühstücken war, verabschiedete sich Susan, weil sie noch einmal auf ihr Zimmer zurück musste. Um sicherzugehen, dass ich nicht vor ihr in der Mensa eintraf, trödelte ich ein wenig und zupfte die blaukarierte Patchworkdecke, die Susan in meinem Schrank gefunden hatte, so lange zurecht, bis sie faltenlos war. Schließlich schnappte ich mir meine Daunenjacke und eine Mütze – obwohl ich Mützen hasste. Doch bei der Kälte blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich nicht frieren wollte.
Ich hatte sie umsonst aufgesetzt. Das Wetter hatte umgeschlagen. Es war überraschend warm. Beim Blick auf den See bemerkte ich, dass die dünne Eisschicht geschmolzen war. Die vergangene Nacht musste ungewöhnlich mild gewesen sein, auch der Schnee auf den Bäumen war verschwunden. Meine Laune verbesserte sich ganz erheblich.
Auf der Suche nach Susan durchforstete ich den belebten Speisesaal. Christopher saß neben ihr und beobachtete mich. Schon wieder! Sein fragender Blick ließ mein Gute-Laune-Lächeln erstarren – nicht dass er auf die Idee kam, es wäre für ihn bestimmt.
Ich wandte mich ab und lief zur Essensausgabe, um mir Kaffee und einen Muffin zu holen. Als Christopher plötzlich neben mir stand, wich ich erschrocken zurück. Meine Reaktion ließdie Stirnfalte zwischen seinen Augen wieder auftauchen. Seine Stimme hatte er besser unter Kontrolle. Animateur-Charme-Training, tippte ich.
»Hallo Lynn. Da du heute zum ersten Mal beim Frühstück bist,
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