Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Sofort riss ich mich zusammen und folgte dem Chor: bewegte lautlos meine Lippen und flüsterte leise den Text vor mich hin.
Trotz meines Unvermögens war die Stunde göttlich, ein Gratiskonzert – obwohl ich normalerweise nicht auf Kirchengesang stand.
Bester Laune fragte ich mich zu meinem nächsten Unterrichtsfach durch: Instrumentalunterricht?! Offenbar standen heute Morgen die musischen Fächer im Vordergrund.
Frau Kiss erwartete mich im Flur. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem herzförmigen Gesicht aus und betonte ihren kirschroten Mund. Der Name passte zu ihr!
»Komm rein ...«, fragend hob sie ihre Augenbrauen. »Lynn?«
»Ja«, antwortete ich schnell.
»Ich freue mich, das Vergnügen zu haben, dich unterrichten zu dürfen.«
Ich zog die Stirn kraus. Was für eine seltsame Wortwahl! Meine Überraschung, als ich den mit barocken Wandgemälden geschmückten Raum betrat, erheiterte Frau Kiss. Eine Lyra, ein Kinnor – ein antikes Zupfinstrument – und eine riesige Harfe, nicht minder prächtig als das Instrument im Schlosskeller, warteten darauf, gespielt zu werden. Die Begeisterung, mit der ich die große Harfe musterte, war allzu offensichtlich.
»Ich sehe schon, du hast dich für den Engelsflügel entschieden. Die meisten treffen ihre Entscheidung auf Anhieb.«
Frau Kiss warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, während ich mich beinahe ehrfürchtig dem Instrument näherte. Es war mit ähnlichen Verzierungen versehen wie der Spiegel, den ich im Schlosskeller gefunden hatte. Gab es auch venezianische Harfen? Das würde ich googeln, sofern ich den Computerraum fand.
Mit zitternden Händen strich ich sanft über die Saiten. Warme Samttöne! Spontanes Gänsehautfeeling. Sie hatte recht, ich hatte mein Instrument gefunden.
So verließ ich strahlend den Unterricht und ebenso strahlend schien die Sonne vom blauen Himmel. Meine Laune hatte ihr Tageshoch erreicht. Wem auch immer ich diesen Lernplan zu verdanken hatte – ich tippte auf Herrn Sander –, er lag mit seiner Kurswahl gar nicht so falsch.
»Hallo Lynn!«
Christophers unerwartetes Erscheinen ließ mich wieder einmal zusammenschrecken. Musste er andauernd aus dem Nichts auftauchen?
»Allem Anschein nach hast du den Unterricht genossen.«
Er betrachtete mich mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel, was mich beunruhigte. Wollte er wirklich nur nett sein? Oder beabsichtigte er, sich für mein abweisendes Verhalten auf der Treppe zu revanchieren?
»Hier, das ist dein Plan für den Nachmittag.«
Seine Augen schillerten in dunklem Seegrün, als er mir einen orangefarbenen Zettel vor die Nase hielt. Ich erwischte ihn auf Anhieb. Ohne einen Blick darauf zu werfen, faltete ich das Blatt zusammen und steckte es in meine Tasche.
Christophers Gelassenheit verschwand. Er zögerte, als ob nun der schwierige Teil kommen würde. Abgesehen davon, dass es wohl unter seiner Würde war, mir den Zettel hinterhertragen zu müssen – bestimmt war er es gewohnt, dass die Mädchen ihm nachliefen.
»Du«, er holte kurz Luft – war er unsicher? – »hast noch nicht zu Mittag gegessen, und es wäre schön, wenn ich dir Gesellschaft leisten dürfte.«
Jetzt schnappte ich nach Luft, was nicht an der schwülstigen Formulierung seiner Bitte lag. Kurz erschien die steile Falte auf Christophers makellosem Gesicht, und ich hätte schwören können, dass das Grün seiner Augen für den Bruchteil einer Sekunde hell aufblitzte.
Ich entzog mich seinem prüfenden Blick, doch ehe ich etwas auf sein Angebot erwidern konnte, nahm er es zurück.
»Aber wenn du nicht willst ...«
Dass er so schnell einen Rückzieher machte, verwirrte mich. Er wirkte verletzt – nicht nach gekränktem Machostolz, sondern eher wie zurückgewiesen. Ein Gefühl, das ich kannte. Und es bestürzte mich, dass ich es war, die es verursacht hatte.
»Nein, ich ... ich würde gerne mitkommen.«
Christophers Stirnfalte tauchte wieder auf. Hatte ich mich getäuscht? War sein Angebot gar nicht ernst gemeint? Ich wollte mich schon mit einem Aber ich muss vorher unbedingt noch ... aus der Affäre winden, als die Falte einem ziemlich unwiderstehlichen Lächeln wich.
Auch diesmal half mir Christopher bei der Essensauswahl. Allerdings beschränkte er sich aufs Beraten und ließ mich selbst entscheiden, nachdem ich klargestellt hatte, dass ich durchaus fähig war, mein Tablett selbst zu tragen.
Ich hielt Ausschau nach Susan. Der Speisesaal war nur halb besetzt, und ich entdeckte sie in einer Gruppe
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