Schloss der Engel: Roman (German Edition)
eigentlich Linde Beerwang.«
»Und von wo hat man dich hergeschickt?«
»Von Italien.«
Er studierte aufmerksam sein kleines Notepad, berührte fieberhaft die Oberfläche und schüttelte dann irritiert den Kopf. »Es tut mir leid, ich kann deinen Namen nicht finden. Manchmalsind sie hier in der Verwaltung ein wenig langsam. Aber spätestens heute Abend stehen mir deine Daten bestimmt zur Verfügung. Und da du neu bist«, er musterte mich von Kopf bis Fuß, während er mich einer eingehenden Prüfung unterzog, »geb ich dir einfach den Standardplan. In Gruppe B ist noch ein Platz frei. Komm morgen ins Sekretariat, dann hab ich einen kompletten Plan für dich.«
Der Mann notierte etwas in sein Kombi-Notebook, druckte eine Seite aus und überreichte mir den Zettel, auf den er Chor, Gruppe B, an oberster Stelle notiert hatte. Chor? Nicht unbedingt das, was ich auf meinem Lernplan erwartet hatte. Bestimmt dachte er, ich würde am Ferienprogramm teilnehmen.
»Eigentlich sollte ich in den Ferien ler...«
»Ferien?«, fiel er mir ins Wort und hielt sich seinen runden Bauch vor Lachen. »Du bist doch gerade erst angekommen! Egal was man dir erzählt hat, Ferien hast du hier keine – abgesehen vielleicht von deinem freien Tag. Hier weht ein anderer Wind, als du es vielleicht gewöhnt bist. Und glaub bloß nicht, dass du unbemerkt schwänzen kannst. Die Nachholstunden dauern doppelt so lang – und sind meistens mit Anstrengung verbunden.«
Ich schluckte – das hörte sich mehr nach Straflager als nach Schule an! Doch der Mann meinte es offenbar ernst. Dennoch brachte ich ein halbwegs freundliches Nicken zustande, auch wenn ich mir das mit dem Lernen anders vorgestellt hatte.
Um meine Wertsachen einzuschließen, ging ich zu meinem Spind. Ich suchte vergeblich. Als ich den Flur betrat, wo er gestern noch stand, gähnte mir vollständige Leere entgegen. Nicht nur mein Schrank, alle Schränke waren weg.
Lachen füllte den Raum, und ich zuckte unweigerlich zusammen, als meine Mitschüler an mir vorbei zu ihren Kursräumen strömten. Ein weiterer Streich auf meine Kosten?
Ich bemühte mich, Ruhe zu bewahren. Niemand war stehengeblieben,um sich über mich lustig zu machen – anscheinend sah ich schon Gespenster. Also kein Scherz. Schließlich erinnerte ich mich an die Renovierungsarbeiten, die Frau Schlatter erwähnt hatte. Sicher sollten nur die schlammgelben Wände im Flur neu gestrichen werden. Blöd, dass meine Bücher im Spind waren!
Ein Junge mit zurückgegelten Haaren, dem meine Ratlosigkeit auffiel, kam auf mich zu.
»Du suchst sicher deinen Kursraum. Da kann ich dir bestimmt weiterhelfen.« Ohne Zögern nahm er mir den Zettel ab. »Chor für Neuzugänge, Gruppe B, wird im kleinen Musiksaal unterrichtet.«
Er beschrieb mir umständlich den Weg zu meinem Kursraum und wünschte mir viel Vergnügen bei meiner ersten Chorstunde, bevor er sich freundlich verabschiedete. Hätte er nicht so überaus zuvorkommend reagiert, wäre ich vielleicht weniger skeptisch gewesen, ob er nicht auch neu war und sich genauso wenig auskannte wie ich. Immerhin, Chor im Musiksaal, das erschien mir plausibel. Der Korridor hatte sich bereits geleert, die anderen Schüler waren in den umliegenden Räumen verschwunden. Was blieb mir anderes übrig, als seiner verwirrenden Wegbeschreibung zu folgen?
Ich kam gerade noch rechtzeitig, bevor der Unterricht begann. Unauffällig stellte ich mich in die vorletzte Reihe. Laut Plan hieß mein Lehrer Gottlieb. In Gedanken hatte ich einen ewig lächelnden Chorleiter vor Augen, der sich berufen fühlte, Menschen zum Singen zu animieren. Herr Gottlieb lächelte tatsächlich hinter seinem schwarz lackierten Flügel hervor, und sein Lachen war warm und herzlich. Er war mir auf Anhieb sympathisch – und damit auch sein Unterrichtsfach –, jedenfalls bis die Klasse zu singen begann.
Ein Choral stand auf dem Programm, dessen Melodie ich kannte. Ich legte los, doch schon nach den ersten Tönen erstarbenmir die Worte im Mund. Bislang hielt ich meine Stimme für durchaus brauchbar – zumindest traf ich einigermaßen die Töne –, aber ich wusste sofort, dass ich hier fehl am Platz war.
Ich schaute mich um. Abgesehen davon, dass meine Mitstreiter durch wahren Enthusiasmus glänzten, schienen sie ganz normal zu sein. Also akzeptierte ich, dass vermutlich der Großteil der Regensburger Domspatzen am Feriencamp teilnahm, und beschränkte mich aufs Zuhören, bis Herrn Gottliebs fragender Blick auf mich fiel.
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