Schlüsselherz (German Edition)
musste. Valenders Lippen wurden schmal. Für die nächsten Minuten ruckelte er den Rollstuhl schweigend zwischen den penibel gemähten Rasenflächen hindurch und hielt nur ab und zu an, um Melissa den Speichel vom Mund zu tupfen. Er ging liebevoll dabei vor und streichelte ihr immer wieder über die Wange oder durchs Haar, das dieselbe Farbe hatte wie se i nes, nur von mehr hellblonden Strähnen durchzogen. Vielleicht war es von der Sonne gebleicht, auch ihre leicht gebräunte Haut und ein paar lustige Sommersprossen ließen vermuten, dass sie häufig dra u ßen war.
„ Wohnt Melissa bei Ihnen?“ Cera konnte sich nicht vorstellen, dass die junge Frau tagsüber allein blieb, wenn Valender im Laden arbeitete. Aber wieso ging sie auch davon aus, dass ein Mann wie er allein war?
„ Sie lebt bei meinem Vater.“ Valender seufzte. „Er hat die Buc h handlung nach ihrem Unfall einem Statthalter übertragen, solange ich bei der Ausbildung in der Royal Army war, und sich selbst mit Melissa in sein Landhaus zurückgezogen. Da verbarrikadiert er sich mit ihr und bedauert, in ungerechten Zeiten zu leben.“
Soldat war er also. Ja, das passte besser zu ihm, als den Buchhän d ler zu spielen, der er nicht war.
„ Sie haben die Ausbildung gemacht und die Royal Army danach verlassen?“ Das war eigenartig, die Ausbildung galt als teuer und erst danach verdienten Soldaten Geld. „Warum?“
„ Der Krieg war zu Ende.“ Er sagte das mit Melancholie in der Stimme, aber nicht, als sei es etwas Trauriges. „Die Abrüstung b e gann und der Bedarf an menschlichen Soldaten sank ins Bodenlose. Außerdem fehlte mir meine Schwester.“ Irgendetwas in seinen A u gen verriet, dass er – falls er nicht gar log – zumindest nicht die ga n ze Wahrheit sagte. Da war noch mehr. Valender fuhr fort. „Ich hatte unseren Kontakt zuvor auf das Nötigste reduziert, weil es mir schwerfiel , zu akzeptieren, was mit ihr passiert ist. I r gendwann stellte ich fest, dass ich erwachsen geworden war. E r wachsen genug, um mir klar zu werden, dass sie immer meine kleine Schwester sein wird.“ Er griff nach Melissas Schulter und drückte sie leicht. „Egal was mit ihr oder mit mir passiert.“
Ein Eichhörnchen huschte über den Weg und Melissa gab ein G e räusch von sich, ein schwingendes „Haaaah“, das entfernt an den Schrei eines Raubvogels erinnerte.
„ Da rennt das dumme Ding.“ Cera lachte Melissa an, wobei sie g e duckt neben dem Rollstuhl laufen musste. „Seien Sie mal ehrlich, Melissa, sind diese Tiere nicht seltsam? Wenn einer offen und frö h lich auf sie zugeht, ergreifen sie die Flucht. Schleicht sich aber j e mand listig an sie heran, starren sie nur, bis sie im Sack landen.“
Erst als Melissa ihre Aufmerksamkeit anderem zuwandte, trat Cera wieder neben Valender. Leise fragte sie: „War es ein Unfall?“
Valender nickte. „Melissa war fünfzehn. Sie befand sich mit der Schule in einem Museum, als ohne jede Warnung die Bomben fl o gen. Es gab nur geringe Schäden damals, die Bomben schlugen in unbewohntes Gebiet ein, aber die Detonation erschütterte die Erde und aus der Decke brachen einzelne Stuckverzierungen. Ein Stei n brocken traf Melissa am Kopf, sie wurde schwer verletzt. Ihr Herz blieb stehen, aber sie konnte wiederbelebt werden. Vermutlich wäre gar nichts Schlimmes passiert, wenn sofort jemand Erste Hilfe gelei s tet hätte, aber ihre Lehrerinnen blieben lieber wehklagend in ihren Verstecken.“ Er atmete beinah e lautlos aus und ebenso leise tief wi e der ein. „Seitdem ist Melissa auf dem körperlichen und geistigen Stand eines Kleinkinds .“
Für einen Moment wirkte er so kraftlos, dass Cera gern die Hand auf seine gelegt hätte. Doch konnte sie das riskieren? Wäre es ihm nicht unangenehm?
„ Aber was erzähle ich dir das?“, sagte er dann, wischte sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht unter den Hut und den Trübsinn aus dem Gesicht. „Das interessiert dich nicht“ – sie wollte widersprechen – „und geht dich auch nichts an. Wir kommen z u recht. Alles, was ich möchte, ist Melissa eine Freude zu bereiten. Ich möchte, dass du für sie tanzt.“
„ Sehr gern“, erwiderte Cera mechanisch und zeigte ihm nicht, wie grob sie sich zurückgewiesen fühlte. „Würde Ihnen das gefallen?“, wandte sie sich an Melissa. „Soll ich tanzen, nur für Sie?“
Melissa nickte und ihre Wangen färbten sich vor Freude rot.
Valender führte sie zu einem kleinen gepflasterten Platz, der von
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