Schlüsselherz (German Edition)
sich direkt an das Bild. „Kannst du ihn beschreiben?“
Der portraitierte Reiter saß ab und trat näher auf den Bildrand zu, sodass er den Rahmen fast völlig ausfüllte. „Warum willst du das denn wissen, Jungchen?“
„ Nun stell dich nicht so an!“ Nathaniel hasste es, wenn seine Schöpfungen, die Kreaturen, für die er ein Fragment seiner Seele hergab, sich ihm gegenüber zickig verhielten. Leider taten sie das alle. Er spann den Gedanken, es könne der Einfluss seiner Seele sein, was sie so werden ließ, nie zu Ende. „Sag schon, alter Reiter! Wie sah der Mann aus?“
„ Ich weiß gut, wie sein nackter Hintern aussah“, amüsierte sich sein Gegenüber und verfiel wieder in sein schadenfrohes Lachen.
Mrs Keyman kreischte, hob einen Stuhl an und wollte damit auf das Gemälde losgehen. Nathaniel konnte im letzten Moment dazw i schen gehen und ihr das Möbelstück aus der Hand reißen. „Sind Sie wahnsinnig? Wenn Sie das Bild zerstören, weicht er in andere G e mälde und in die Spiegel im Haus aus. Und dann haben Sie richtig Spaß, meine Liebe.“
Das war nicht mehr und nicht weniger als eine kack dreiste Lüge, aber es ging hier nicht bloß um ein hässliches Bild, sondern um einen Splitter seiner Seele. Zum Glück glaubten ihm die Ke y mans sofort. Mr Keyman trat vor das Bild und trug einen Ausdruck im Gesicht, als wäre er bereit, die wild gewordenen Pinselstriche mit seinem L e ben zu verteidigen. Mrs Keyman sank neben ihrem Stuhl auf dem Boden nieder und wimmerte etwas, was nur mit Fantasie zu verst e hen war. Offenbar wollte sie, dass jemand ein Mädchen nach ihrem Riechsalz schickte. Niemand reagierte.
„ Du wirst doch sagen können“, beharrte Nathaniel, an das Gemä l de gewandt, „wie der Kerl aussah.“
„ Das ist doch völlig egal!“, meinte Keyman, doch als das Bild wi e der sprach, war es ihm ganz augenscheinlich doch nicht egal, denn er lauschte aufmerksam.
„ Keine Ahnung“, lachte der Gemalte. „Aber ich weiß, wie er heißt.“
Mrs Keyman entschied sich für eine Ohnmacht, was außer ihr selbst niemanden aus der Bahn warf, und das Bild stöhnte, ihre au f fällig laute Stimme imitierend, „Valender – oh, Valender – ja, Vale n der!“
„ Beazeley!“, grollte Mr Keyman.
„ Beazeley“, murmelte Nathaniel. Das durfte doch nicht wahr sein. Er hätte geschworen, dass Valender Beazeley über beide Ohren in das Püppchen Cera verknallt war. Und sie in ihn. Arme Puppe.
Nathaniel hatte mit einigen prekären Enthüllungen gerechnet, nur darum, weil er den Keymans zutiefst misstraute, hatte er das Gemä l de ja zum Leben erweckt. Was wirklich aufgedeckt worden war, schockierte ihn allerdings noch mehr. Was hatte den verrückten Beazeley geritten, die Theaterdirektorin zu besteigen?
„ Den Halunken kauf ich mir!“ Keyman schlug die Faust in die Handfläche und seine Frau war clever oder entsetzt genug, ihre Ohnmacht aufrechtzuerhalten.
Nathaniel schwankte zwischen zwei Gedanken: Beazeley warnen. Oder das Gemälde in Sicherheit bringen.
Er entschied sich für die erste Idee und tat das nur, weil er wissen wollte, was Valender sich bei der Aktion gedacht hatte. Ob er es ihm noch würde sagen können, wenn Keyman erst mit ihm fertig war, schien angesichts dessen wilder Wut doch mehr als fraglich.
***
Valender wusste im gleichen Moment, als es lange und durchdri n gend an der Tür schellte, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte. Eine Sekunde lang spielte er mit der Idee, aus dem Fenster zu kle t tern und über die Dächer Londons zu fliehen. Doch schnell genug fiel ihm wieder ein, dass er sich diese Schwierigkeiten selbst eing e brockt hatte. Er musste dazu stehen. Also drückte er auf den Knopf, der die Mechanik in Gang setzte, mit der das Türschloss im Erdg e schoss geöffnet wurde.
Zu seiner größten Überraschung war es Nathaniel Charles, der die Treppen hochgeeilt kam.
„ Sie wissen es“, rief er.
„ Was weiß wer?“ Valender hatte keine Ahnung, wovon Charles da wieder sprach. Der Mann war unmöglich einzuschätzen.
„ Dass du die Keyman gepimpert hast“, entgegnete Charles und wirkte einen Moment lang so verärgert, als hätte Valender ihn pe r sönlich äußerst empfindlich beleidigt.
„ Was? Aber … woher … ?“ Hatte Lyssandra etwas gesagt? Aber warum sollte sie ausgerechnet Nathaniel Charles, den sie hasste, d a von erzählen?
„ Tabula vivere“, rief Nathaniel. Es klang bedrohlich wie ein Za u berspruch, sollte aber
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