Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Kundenkarte – und die bekommt man nicht so ohne weiteres, wenn man als türkischer Kleinhändler aus Deutschland mit einem Mercedes Sprinter angefahren kommt. Mein Vater hatte einige erfolglose Versuche unternommen, an der Auktion teilzunehmen, bis er einen holländischen Geschäftspartner fand, der ihm seine Karte tageweise gegen zehn Prozent Provision überließ. Das war der Beginn: 1995 stieg mein Vater in den Großhandel ein. Doch noch immer war es ein Nebenerwerb.
Da stand er nun in einer riesigen, kühlen Halle, in die jeden Tag Abertausende Container voller Blumen rollten – Blumen aus holländischen Gewächshäusern, Blumen aus Kenia, aus Israel und Äthiopien, Blumen, Blumen, Blumen –, zusammen mit zweitausend Blumenhändlern aus halb Europa. Zweitausend Konkurrenten im geordneten Streit um den billigsten Preis. Morgens um sechs Uhr kommen sie an, prüfen die Ware, achten auf Blütenblätter und Stiele und überlegen: Was brauche ich? Was ist mir wie viel wert? Die Halle ist wie ein Hörsaal geformt, ein nach hinten in Treppen aufsteigendes Halbrund, und vorn an der Wand hängen die riesigen Blumenuhren, die den Preis der hereinrollenden Ware anzeigen. Die Verkäufer sagen, wie viel sie verlangen, die Uhr zeigt diesen Preis an und beginnt zu ticken. Und dann fällt der Preis langsam, bis ein Interessent auf seinen Kundenknopf drückt. In dem Moment erhält er den Zuschlag. Eine umgekehrte, aber sinnreiche Versteigerungslogik: Der Weg führt von teuer nach billig.
Wer hier bestehen will, braucht eine rasche Auffassungsgabe, einen klaren, sicheren Blick für die Qualität der Ware, und er muss wissen, was er will, muss rechnen, überschlagen, kalkulieren können. Nicht zuletzt braucht er gute Nerven. Drückt er den Knopf zu früh, wenn der Preis auf der Blumenuhr noch hochsteht, dann darf er sich zwar seine Ladung in den Laster packen – aber er hat sich die Gewinnspanne verdorben. Zögert er zu lang, ist er zu geizig, dann kommt ihm ein anderer zuvor und nimmt die Blumen mit. Leise geht es zu bei diesen Versteigerungen. Kein Auktionator prügelt mit dem Hammer auf einen Tisch ein. Kein Händler fuchtelt wild mit den Armen oder brüllt seine Gebote in die Halle. Es gibt nur die Uhren. Und die Knöpfe: Verkauft!
Als mein Vater das erste Mal zusah, hat er vermutlich nur in Gedanken mitgesteigert. Er war ein besonnener Mann, er studierte eine Sache genau, bevor er handelte. Vielleicht tippte er sich auf den Schenkel, als er dachte: Jetzt müsste man … Er wird schnell gespürt haben, dass ihm das alles liegt. Denn nun fuhr er Woche für Woche nach Naaldwijk, und von Woche zu Woche entwickelte sich sein Geschäft, wurde schnell größer und wichtiger. Kleinere Händler begannen, ihn als zuverlässigen Straußlieferanten zu schätzen, erst wanderten einzelne zu ihm ab, dann immer mehr: Probier’s mal bei Simsek. Es sprach sich herum. 1996 eröffnete er ein eigenes Lager im Industriegebiet am Ortsrand von Schlüchtern, einem Städtchen mit sechzehntausend Einwohnern, zehn Kilometer südlich von Flieden gelegen. In einem ehemaligen Schwimmbad zog Vater Holztrennwände ein – fünfzehn Quadratmeter Büro, hundert Quadratmeter Arbeitsraum, hundertfünfzig Quadratmeter Lagerfläche und sechzig Quadratmeter Kühlraum. Und damit begann auch für uns Kinder ein neues Leben.
Kurz nachdem mein Vater seinen Betrieb in Schlüchtern eröffnet hatte, zogen wir dorthin um, ich war damals in der fünften Klasse. Das geregelte, ruhige Leben, das wir bislang gewohnt waren, gab es nun nicht mehr. Meine Mutter war oft im Lager und hatte kaum mehr die Zeit, uns Mittagessen zu kochen. Mein Bruder und ich holten uns damals oft einen Döner oder Pizza, oder wir gingen nach der Schule ins Lager und haben dort gegessen. Das gemeinsame Frühstück fiel ebenfalls aus, wir kauften uns stattdessen etwas vom Bäcker. Wir haben kaum noch Freizeit miteinander verbracht, obwohl meine Eltern in Schlüchtern einen Garten gepachtet hatten, in dem wir anfangs grillten. Das Grundstück gehörte zu einem deutschen Gartenverein, der schon viele türkische Mitglieder hatte, durch die Anlage floss die Kinzig, ein kleiner Fluss, daneben lag ein Sportplatz, auf dem wir zusammen Fußball spielten, wenn meine Eltern Zeit dafür fanden. Das war allerdings immer seltener der Fall. Aus dem gleichen Grund fielen auch die langen Sommerurlaube aus. Wir fuhren nicht mehr jedes Jahr mehrmals in die Türkei, und wenn, dann höchstens für zwei, drei
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