Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
betrat und an der stundenlangen Versteigerung teilnahm. Danach belud er den Lastwagen und trat die Heimfahrt an. Am Dienstagabend gegen neun oder zehn Uhr, manchmal auch erst um Mitternacht, war er zurück.
Die nächsten Tage liefen ähnlich ab: Am Mittwoch und Donnerstag stand er von morgens um sieben bis abends um acht im Lager, Sträuße binden, Sträuße binden, Sträuße, Sträuße, Sträuße. Denn zum Wochenende hin würden die Händler kommen und sich eindecken wollen. Am Ende so einer harten, vollgepackten Arbeitswoche ohne freie Stunden kam das Wochenende – an dem mein Vater sich nicht etwa erholte, sondern sich vom Groß- zurück in einen Straßenhändler verwandelte. Samstag gegen fünf Uhr früh fuhr er zur Parkbucht bei Nürnberg, klappte seinen Tisch auf, spannte seinen Schirm auf und stellte die Werbeschilder an die Straße. Meist fuhr er zuvor noch andere Standorte an, wo bereits seine Verkäufer auf ihn warteten, gab jedem zweihundert Mark Wechselgeld und sechzig bis achtzig Sträuße. Den Tag über stand er dann selbst am Stand und verkaufte. Abends war es meist zu spät, um noch nach Hause zu fahren, und außerdem wollte er am Sonntag ja wieder an der gleichen Stelle stehen. In Allersberg, zwanzig Kilometer südlich von Nürnberg, gab es eine billige Pension, die bei den Blumenhändlern beliebt war. Dort traf er irgendwann zwischen acht und neun Uhr abends ein. Manche der Männer schauten noch fern im Aufenthaltsraum, mein Vater setzte sich selten dazu. Meist trank er nur einen Kaffee, unterhielt sich noch kurz mit den Händlerkollegen, tauschte sich über die Geschäfte aus und zog sich dann auf sein Zimmer zurück. Er muss hundemüde gewesen sein, und ohnehin trug er sein Herz nicht auf der Zunge. Das wenige, das er seiner Wirtin erzählt hat, drehte sich um uns, um seine Familie. Am Sonntag um acht Uhr in der Früh stand er schon wieder an der Straße, den lieben langen Tag. Irgendwann gegen Abend kam er dann nach Hause. Damit war die Woche meines Vaters zu Ende, manchmal hatte er siebzig Stunden gearbeitet, manchmal achtzig und mehr.
Im Sprinter, in dem mein Vater gestorben ist, hatte er auch ein Bild von mir. Ich war Papas Prinzessin, schon immer. Ich hing so sehr an ihm wie er an mir. Als ich noch klein war, hat er mir oft die frisch gewaschenen Haare gekämmt, was ich sehr mochte. Etwas später, in der Pubertät, wurde meine Mutter dann wichtiger für mich, da ging es um Sachen, die sich am besten von Frau zu Frau besprechen lassen. Das konnte ich gut mit meiner Mutter. Sie war verständnisvoll. Sie ist es bis heute.
Wenn er wochenends Blumen verkaufte an der Straße, habe ich ihn öfters begleitet. Vor fast jeder dieser Fahrten versteckte er einen Schokoriegel im Auto – und zwar so gut wie immer am selben Ort. Wenn ich heute ein Snickers esse, muss ich an meinen Vater denken. Wir sind morgens los, er hat seinen Stand aufgebaut und noch ein paar Sträuße fertig zusammengesteckt, und ich wollte das dann immer auch machen. Er hat mich meistens einen Strauß binden lassen, aber es sah natürlich nie so schön aus wie bei ihm. Er hat mein Werk dann wieder aufgedröselt und neu gesteckt. Mir war eigentlich nicht langweilig mit ihm, auch wenn nicht viel geschah an diesen Samstagen. Ich spielte Nintendo, las ein Buch oder studierte die Schnecken im Gras. Meistens hatte ich einen Ball dabei – und wenn gerade keine Kundschaft da war, haben wir ihn uns zugeworfen. Im Grunde habe ich am Straßenrand auch Mathe gelernt: Ich durfte kassieren und Wechselgeld rausgeben. Auch da habe ich manchmal Fehler gemacht, aber Vater ertrug das mit einer Engelsgeduld. Er war überhaupt der ruhigere, mit meiner Mutter hatte ich jedenfalls mehr Streit. Manchmal habe ich es ausgenutzt, dass mein Vater in der Regel auf meiner Seite stand. Wenn ich mich mit Mama fetzte, wusste ich genau, dass ich zu ihm flüchten konnte und er mich verteidigen würde. Das konnte aber auch schiefgehen und ihn treffen. Eines Tages hatte ich eine schlechte Note nach Hause gebracht, meine Mutter war stinksauer und hat mit mir geschimpft, bis mein Vater dazukam. Kaum war er da, hat er sein Fett wegbekommen: Er erziehe mich viel zu nachlässig, hat sie ihm vorgeworfen, er lasse mir alles durchgehen. Mein Vater hat das zuerst nicht ernst genommen und wollte alles an sich abgleiten lassen, aber meine Mutter hat immer weiter geschimpft. Vielleicht war ich in diesem Moment auch nur der Auslöser, vielleicht brach da etwas aus ihr heraus,
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