Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Wochen. Mehr war nicht möglich, denn das Geschäft meines Vaters wuchs und wuchs.
Obwohl ich die Katharinenstraße so gerne mochte, hat es mir nicht viel ausgemacht, dort wegzuziehen, denn ich war gespannt auf das Neue. Wir kannten auch in Schlüchtern schon Leute, dort hatten sich viele Türken aus Salur angesiedelt, oft mit ihren Kindern, die hier mittlerweile Familien gegründet hatten. Man kannte sich, und mit der Zeit war daraus eine große Gemeinschaft gewachsen. Auch viele meiner Schulkameraden waren nach Schlüchtern umgezogen, sodass ich in der neuen Schule zum Teil mit meinen alten Freunden in einer Klasse war. Für meinen Bruder war es komplizierter. Weil er jünger war, hatte er weniger Freunde und kannte nun auf einmal niemanden mehr, und er vermisste das Dorfleben in Flieden. Schlüchtern war eine Stadt, dort gab es keine Bauernhöfe, und wir haben direkt an der Straße gewohnt, auch war dort viel mehr Verkehr. Als seine Schwester habe ich mich nun öfter um Kerim gekümmert. Wir waren zusammen auf der gleichen Schule und auch sonst ganz eng; es gab Zeiten, da ich mit ihm Auto gespielt habe und er mit mir und meinen Barbiepuppen. Für Kerim bin ich allerdings nicht Semiya, er nennt mich nicht bei meinem Namen. In einer türkischen Familie muss man zur älteren Schwester Abla sagen, und meine Eltern haben immer Wert darauf gelegt, dass er sich daran hielt. So ist ihm immer, wenn er mich anspricht, bewusst: Ich bin seine ältere Schwester, und er sollte mir Respekt entgegenbringen. Umgekehrt weiß ich immer, wenn er mich anspricht, dass ich für ihn Verantwortung trage. Das alles drückt das Wort Abla aus. Mein Bruder und ich haben immer gewusst, dass wir einander haben, auch in den schwersten Momenten. Kerim tut wie viele Männer, als hätte er eine harte Schale. Aber er macht viel mit sich selber aus und ist tatsächlich sehr weich und empfindsam.
Von Anfang an haben meine Eltern uns zur Selbständigkeit erzogen. Wir haben nicht überbehütet gelebt. Als sie beide im Blumenhandel gearbeitet haben, mussten wir sowieso allein zurechtkommen, doch auch schon, als ich etwa zehn war und wir noch in Flieden wohnten, haben sie das mit uns eingeübt, haben mich allein zum Einkaufen oder zum Hausarzt geschickt. Mit der Zeit durften wir immer mehr selber entscheiden. Was wir taten, was wir bleibenließen. Wir wurden nicht eingeschränkt, nicht von unseren Eltern, auch nicht von unserer Religion. In der vierten Klasse hatten wir Schwimmunterricht, und einige muslimische Mädchen durften daran nicht teilnehmen. Auf so ein Verbot wäre meine Mutter nie gekommen, sie ist zwar sehr gläubig, aber sie trennt das. Im Sommer haben wir die meiste Zeit im Freibad verbracht, Mama hat uns mittags hingefahren und abends abgeholt. Ich musste nie ein Kopftuch tragen, auch meine Mutter trug als junge Frau keines, sondern hatte ihr Haar lang und offen. Und obwohl sie heute ein Tuch umlegt, hat sie immer verstanden, was Freiheit bedeutet. Sie mag auch Haustiere nicht so sehr, weil ihr Hamster und Vögel im Käfig leidtun. Meine Eltern erzogen uns dazu, eigene Entscheidungen zu treffen. Später, als alles drunter und drüber ging und unser Leben von einem Tag auf den anderen fast auseinanderbrach, hat uns das sehr geholfen.
Diese Freiheit zeigte sich auch darin, wie ich als Mädchen behandelt wurde. Da machten meine Eltern nämlich keine Unterschiede. Als jeder Inliner fuhr, haben sie uns selbstverständlich zwei Paar gekauft. Dass meinem Bruder etwas erlaubt gewesen wäre, mir als Mädchen aber nicht – so etwas gab es bei uns zu Hause nie. Meine Eltern waren sich da vollkommen einig, und das galt auch für unsere Ausbildung, auf die mein Vater großen Wert gelegt hat. Er wollte mich unbedingt in Amerika studieren lassen, da seien die besten Hochschulen, meinte er. Deshalb hat mein Vater auch mit mir gelernt, wenn er am Wochenende mal Zeit hatte, Mathe vor allem. Darin war er nicht nur selber gut, er konnte es auch prima erklären und hat mit mir geübt. Er schrieb das Einmaleins in Zehnertabellen auf ein kariertes Blatt und fragte mich dann ab. Genauso beim Lesen: Meine Eltern haben Bücher gekauft, dann musste ich mir zehn oder zwanzig Seiten vornehmen und anschließend erzählen, was drinstand. Er selber müsse hart arbeiten, sagte er, sein Leben sei anstrengend und erschöpfend, und wer gut ausgebildet sei und den richtigen Job habe, der habe es leichter, der müsse körperlich nicht so schuften. Meine Mutter hätte als
Weitere Kostenlose Bücher